Der ALGII-/Bürgergeld-Thread
13.05.2020 um 22:38capspauldin schrieb: Nehme ich nun den Barrista, der eigentlich gedanklich schon an der Charité arbeitet, finde ich es jedoch leicht händelbar. Ich würde ihn niemals demotivieren und seine Illusion nehmen, Arzt zu werden. Die Illusion muss er sich selber nehmen.Ich denke, das ist fossiliert - es ist schwer, das zu akzeptieren, wenn deine Zukunft dann überhaupt nicht so gelaufen ist, du praktisch nah dran warst und das Ziel nun unerreichbar ist.
FerneZukunft schrieb: Ich verstehe diese Menschen sogar! Ich kann nur sagen, wie ich in deren Situation denken würde: Mir ginge es nicht darum, dass die Arbeit "unter meiner Würde" ist - im Gegenteil, mir würde "einfachere" Arbeit sogar mehr Spaß machen. Das Problem ist die Bezahlung in diesen Berufen! Genau dieser Punkt würde mir die Motivation nehmen!Das mit der Bezahlung ist auch immer ein Problem ... das stimmt. Dennoch ist es glaube ich besser, einem Beruf nachzugehen, der einem Spaß macht, als einem Beruf, den man halt macht. Mr Mary arbeit in der Eventbranche. Gerade haben wir echt Glück, dass ich nicht in der Branche arbeite, damit wir unseren finanziellen Verpflichtungen nachkommen können. Generell ist es aber so, dass ich ihn manchmal schon etwas "beneide" - er liebt seinen Job, buttert aber auch ewig viele Stunden rein, hat echt coole Kontakte und so weiter. Der Job hat echt was ... Da Mr. Mary zum Fußvolk gehört, gibt es echt mies bezahlte Monate und dann Monate, wo es richtig kracht ... Er brennt aber für den Job. Ich glaube, er würde ihn auch machen, wenn er kein Geld bekommen würde.
Es war für mich persönlich schwer einschätzbar, was ich auf dem Arbeitsmarkt wert war. Ich habe hier auch schon mehrfach erzählt: als ich studiert habe, war bei mir um die Ecke ein Kaufland - da habe ich mich jahrelang beworben und habe nicht mal ein Vorstellungsgespräch bekommen, obwohl die an der Uni eigentlich immer Aushilfen gesucht haben und auch relativ viele Studenten da arbeiteten. Ich finde, das macht die berufliche Orientierung auch schwierig.
MokaEfti schrieb:missmary schrieb:Mein Zusammenhang war - der normale Klient des Arbeitsamtes möchte natürlich das Beste aus sich rausholen und einen Job, der möglichst Spaß macht - allerdings deckt sich die Selbst- und die Fremdeinschätzung nicht, sind die Pläne unrealistisch.
Ich glaube, dass das Arbeitsamt solche Fälle eben gerne "dauerhaft" von der Fallliste streicht.
Kürbisgesicht schrieb am 09.05.2020:
Ein Interesse hat nämlich jeder Mensch, man muss es nur finden und fördern.
Ich stehe gerade auf dem Schlauch und frage mich, wo der Zusammenhang besteht.
Das Arbeitsamt möchte die Leute möglichst dauerhaft unterbringen, ohne dass sie alle zwei-drei Jahre arbeitslos auf der Matte stehen. Wenn nun also z.B. Erzieher gesucht werden und es auch dauerhaft absehbar ist, dass Erzieher gesucht werden, wird das Arbeitsamt natürlich versuchen, die Leute, die nicht wissen, was sie machen sollen, in dem Bereich unterzubringen, wenn sie sich das vorstellen können.
MokaEfti schrieb: Zeigst du mir die Stelle, in welcher @MissMary davon geschrieben hat, dass der Barista noch immer Arzt werden möchte? Ich lese das nicht raus... An dieser Stelle musss ich auch mal kurz sagen, dass ich es wirklich übelst finde, dass man einem Bekannten, der eine ganz normale Arbeit verrichtet, der vertrauensvolle Infos preisgab, hier im Thread der Öffentlichkeit preisgibt und lächerlich macht. Was für ein Vertrauensverlust... Das ist für mich unterste Schublade.Wo mache ich ihn lächerlich? Und - Ich kann dich beruhigen. Es ist der Barista, dessen Spitzname "Doc" ist (und bevor du dir nun wieder Sorgen machst -diese Info ist verändert)- es ist nicht so, dass er mir das vertrauensvoll erzählt hat - er erzählt das immer und jedem. Daher auch der Spitzname. Zudem kannst du ja nicht zurückverfolgen, wo er seinen Kaffee braut. Es gibt ihn wirklich ... aber du wirst ihn vermutlich nicht finden, es sei denn, du frequentierst auch dieses Kaffee oder kannst aus meinen Infos rauslesen, wo ich wohne und wo ich meinen Kaffee schlürfe. Und -ich habe das schon öfters mit ihm diskutiert, dass ich es schade finde, dass er keinen Anlauf mehr genommen hat, seine berufliche Situation nochmals zu verändern - einfach, weil er selbst auch so unzufrieden ist -mit Arbeitszeiten, Arbeitsinhalten und Lohn und irgendwie den Absprung nicht mehr schafft. Wegen ihm selbst und seiner Selbstzufriedenheit, nicht wegen seinem gegenwärtigen Job.
MokaEfti schrieb: Das heisst, dass du Menschen, die Hindernisse im Leben überwinden mussten und dabei ins Straucheln gekommen sind (viele der Alg 2 Leistungsempfänger sind übrigens z.B. alleinerziehende Frauen) den netten Rat gibst, sich der Willkür einzelner Sachbearbeiter/Teamleiter auszusetzen und möglichst da einzureihen, wo die Gesellschaft gerade Bedarf hat? Und deine Begründung dafür ist, dass diese Leute es nicht besser verdient haben, da sie ins Stolpern gekommen sind und jetzt nehmen müssen, was über bleibt.Ich arbeite an einer Brennpunktschule. An uns angekoppelt ist ein Bildungsträger, der sich genau um diese Gruppe Menschen kümmert - Schule ohne Schulabschluss verlassen, die nun als Erwachsene nachqualifiziert werden. Ganz viele der "Klienten" haben unfassbar viel Biss, weil sie selbst erlebt haben, wie schwer es auf dem Arbeitsmarkt ist, ohne Ausbildung (und es gibt sicher Leute, die auch ohne Ausbildung Fuss fassen, aber die landen nicht bei uns). Gerade Alleinalleinerziehende arbeiten oft nebenher, managen die Kinder und machen Schule, oft auch mit dem Ziel, den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.
Eine Frage. Bist du vom Fach?
Damit verschieben sich aber auch oft die Prioritäten. Gerade Alleinerziehende kommen oft und die erste Priorität ist nicht mehr "macht der Job Spaß?" sondern: Zahlt er genug, um mir einen guten Lebensstandard zu ermöglichen? Gibt es genug Arbeitsstellen, ohne dass ich umziehen muss (ist ja mit Kindern oft nur erschwert möglich)? ... Solche Dinge.
MokaEfti schrieb: Was hat dieses Beispiel mit dem Topic zu tun? Es ist eine klare Aufforderung. Adressaten sind jene Menschen, die einfach schlechtere Karten gezogen haben. Die Aufforderung geht klar in die Richtung, dass selbige besser ihr Scheitern aktzeptieren sollten, um kleinere Brötchen zu backen. Man weiß natürlich besser als die Betroffenen, was Menschen wirklich glücklich macht.Es ist mit Sicherheit besser, eine Ausbildung gut abzuschließen und dann gutes Geld zu verdienen, als sich in irgendwelche Hirngespinste zu verrennen - jeder Mensch hat ein Begabungs- und Interessensspektrum, in dem sich die Berufswahl abspielen sollte.
Wenn du eine 4 in Physik hast und ein Physikstudium als Berufswunsch angibst ... dann läuft etwas schief und du wirst fast zwangsläufig irgendwann mal scheitern, es sei denn, du warst hochbegabt und ein Schulverweigerer. Du kannst ja auch nicht aus jedem Menschen ein Olympiasieger machen. Du kannst auch "schlechte Karten" ausgleichen. Niemand muss irgenwas akzeptieren, aberman sollte im realistischen Spektrum bleiben. Ich schreibe nirgends, dass die Leute ihr Scheitern akzeptieren sollen. Wir haben auch genug Schüler, die trotz- oder gerade aufgrund- miserabler sozialer Verhältnissen daheim Übermenschliches aus sich rausholen, unter widrigsten Bedingungen ein gutes Abi machen und studieren. Man sollte aber realistisch bleiben. Ich hatte in Sport immer eine 4 - ich konnte kein Geräteturnen. Mir war schon in Klasse 2 klar, dass ich nie Olympiasieger werde. Ich habe auch mit Mathe gekämpft - bis zum Abi, es war klar, dass Studienfächer, die Mathe beinhalten, rausfallen. Das ist der eine Aspekt.
Ich hatte einen Mitschüler, dessen Vater Landwirt war - und völlig untypisch - absolut nicht wollte, dass sein Sohn den Hof übernimmt, weil er selbst den Job nicht mochte. Er hat also forciert, dass mein Mitschüler unbedingt Abi macht. Hat er gemacht ... ein richtig gutes Abi sogar. Hat sich dann für Landwirtschaft eingeschrieben und den Hof übernommen :-). Hatte richtig coole Ideen für den Hof - heute läuft es und er liebt jede Minute. Seiner Berufung sollte man - im Rahmen des gesteckten Rahmens - schon auf folgen.
MokaEfti schrieb:@MissMary weiß genau, dass es hier eigentlich um ALG II geht. Da passt es ganz gut vom Job und den unrealistischen Wünschen der Besucher einer Brennpunktschule (Quereinsteigerin?) zu berichten. Diese werden nicht gerade zufällig mit den unrealistischen Wünschen vieler ALG II-Empfänger verbunden.Du generalisierst hier etwas, was ich nicht generalisiert habe. Ich habe aber darauf hingewiesen, dass das oft das Problem ist, das einen guten Einstieg ins Berufsleben verhindert. Wir haben auch Schüler, die unter widrigsten Umständen ein gutes Abi machen und den Ausstieg aus dem Sumpf schaffen - und so entsetzlich viel Energie brauchen, um da rauszukommen.
Wir haben Schüler, die daheim mit zwei Fremdsprachen aufwachsen und daraus Kapital schlagen -indem sie z.B. Richtung Spedition gehen und sich z.B. als Disponent hocharbeiten und dann, teilweise mit zwei "Ostsprachen" + Englisch + oft Französisch wirklich auch viel Geld verdienen, weil sie für ihre Position dann wie gemacht sind.
Die Schüler, die oft längerfristig scheitern, sind aber oft wirklich die, deren Berufswunsch und deren Leistung nicht zusammenpassen.
MokaEfti schrieb: Allgemein kann es nicht sein, dass ein Thread, der sich mit einem sensiblen, armutsbeladenen Thema - ALG II - auseinandersetzt, und fast nur Menschen anzieht, welche in Privilegien schwimmen und nichts besseres zu tun haben, als nach unten zu treten oder zu proklamieren, dass problematische Empfänger die Berechtigung zur Teilnahme an der Gesellschaft verloren haben.Ich habe zehn Jahre unter dem ALG II Satz gelebt und trete sicher nicht nach unten. Es gibt in Deutschland viele Möglichkeiten, aufzusteigen. Für jeden. Aber es gibt dabei Spielregeln. Wenn man die nicht akzeptiert, wird man scheitern. Das ist nicht armselig. Das ist die Realität. Das hat nichts mit "Treten" zu tun.
Das ist so armselig...