Jede starke gesellschaftliche Strömung löst erstmal Widerstände und Aversionen aus. Es wird prompt eine Umkehrung der ungerechten Verhältnisse befürchtet, wo Gerechtigkeit gefordert wird.
Seit ich klein war, gibt es die Diskussion über Feminismus.
Zwar war mit den 68ern die "sexuelle Revolution" gekommen, aber für die meisten bedeutete das lediglich, dass es nicht mehr so viele unerwünschte Kinder gab.
Die Frauen schauten sich um und stellten fest, dass die Männer damit eine der letzten Grenzen ihrer individuellen Freiheit überwunden hatten, Frauen aber immernoch die herkömmlichen Rollenvorstellungen zu erfüllen hatten, immernoch weder zugetraut bekamen noch sich selbst zutrauten, sich davon zu lösen.
In dem Buch über das Landleben, das in fast jedem Haushalt zu finden war, war die Rollenverteilung eindeutig... in Filmen, Serien, Sonntagabendkrimis ... wie lange hat es gedauert, bis es die erste weibliche Tatort-Kommissarin gab?
Und glaubt mir, das war nicht witzig. Ich habe hier schon empfohlen, mal "Life on Mars" anzuschauen, die englische Serie. Ganz nebenbei wird die Situation von Frauen im Beruf sehr treffend geschildert, die unverbrämten Vorurteile, die Übergriffe, die fast unüberwindlich scheinenden Hürden, überhaupt ernst genommen zu werden.
Von Lehrern wurden Mädchen oft genug noch unverhohlen diskriminiert.
Beim Feminismus ging es zunächst nicht darum, ob eine Frau als Juristin in einer Kanzlei dasselbe verdient wie ihr Kollege, oder ob sie nach der Babypause den Wiedereinstieg schafft ... es ging zunächst mal um Gewalt:
- die Entdeckung, dass praktisch jede Frau in ihrem Leben zumindest beinahe vergewaltigt wurde (ich z.B. drei mal), und wieviele Vergewaltigungen "erfolgreich" waren.
Und die unsäglich diskriminierende Reaktion, die man bekam, wenn man davon erzählte ... egal ob bei der Polizei, beim Arzt, oder bei anderen. Es wurde vermutet, man habe "provoziert", man wolle dem Mann was anhängen, man sei sexuell frustriert und phantasiere sich was zusammen, und so weiter.
Einen Mann anzuzeigen für Vergewaltigung war ein Spiessrutenlauf, und oft genug ergebnislos: der Mann wurde z.T. erst gar nicht angeklagt.
- die Entdeckung, wie schutzlos Frauen häuslicher Gewalt ausgeliefert waren, wie die Polizei, die Rechtssprechung und die Gesellschaft sie im Stich liessen.
Vergewaltigung in der Ehe war nicht strafbar.
Die Polizei reagierte nur zögerlich und gab den Opfern keinen Schutz.
Ältere hielten es oft noch für normal, dass eine Frau auch mal Schläge einstecken muss.
Die Ehe galt als schützenswerter als die Gesundheit von Frau und Kindern.
Es gab keinen Ort, ausser das Elternhaus (wenn dort Platz und Verständnis zu finden war), wo die Frau hingehen konnte.
Es gab in Scheidungsfällen die "Schuldfrage", was oft bedeutete, dass eine Frau, die der häuslichen Hölle entronnen war, keinen Unterhalt bekam: sie hätte ja nicht weglaufen müssen. Sie musste sich jedes Veilchen attestieren lassen, damit sie nicht mittellos wurde.
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Man hat heute keine Vorstellung mehr, was das alles bedeutete.
Das, zusammen mit den herrschenden Rollenvorstellungen, ergab eine fiese Mischung.
Meine Tanten mussten ihre Kinder bei den Eltern abgeben, um nach der jeweiligen Trennung von einem prügelnden Alkoholiker und einem Lebefroh, der alles Geld mit Geliebten versoff, überhaupt arbeiten gehen zu können: es gab keine Ganztagskindergärten in Westdeutschland. Und keine Krippen.
Es gab "Schlüsselkinder", die halbe Tage alleingelassen waren.
Und ausserdem gab es noch ein paar andere Themen, aber diese waren es, die die Gemüter am meisten erhitzten.
Wir hatten ab Mitte der 70er einen grossen Bauernhof (mit anderen zusammen gekauft) mit viel Platz. Da fanden immer mal Frauen Zuflucht, für ein paar Tage bis eineinhalb Jahre, mit und ohne Kinder. Viele sind zu ihren prügelnden, saufenden Männern zurückgekehrt, denn was ist eine Frau denn noch, wenn sie nicht mehr Ehefrau ist? Wovon soll eine 50jährige leben, die immer Hausfrau und Mutter war und keine Ausbildung hat? Wie hält sie es aus, wenn ihre Eltern ihr raten, zum Mann zurückzugehen, damit es kein Getratsche gibt? Was tut sie, wenn sie kein Geld mehr hat und die Gerichtsverhandlung sich Jahre hinziehen kann?
Sie geht zum Mann zurück, wie die meisten Frauen damals.
Gegen diese verkrusteten Verhältnisse musste man radikale Mittel einsetzen. Man musste den Frauen erklären, dass sie nicht nur irgendwie auch gut, sondern in vielen Dingen besser sind. Man musste Schicksale dokumentieren und veröffentlichen. Man musste sich mit weiblicher Sexualität auseinandersetzen: Fotos von Vaginas zeigen, weibliche Phantasien schildern. Möglichst schonungslos gegen die ganze Verdruckstheit, den Muff und die Diskriminierung angehen.
Kleines Detail: viele schilderten damals, dass es ihren Männern absolut egal ist, ob die Frau einen Orgasnmus hat oder nicht. "Damals" ist noch bis in die 80er zu denken.
Man musste Männer und Frauen darüber aufklären, wie das alles genau funktioniert, und dass eine Frau nicht "frigide" ist, wenn sie keinen vaginalen Orgasmus hat.
Ziemlich blöd, nach Millionen Jahren Sex? Aber in den 60ern sprach man nicht über Sex, und in den 70ern interessierte man sich kaum für so nebensächliche Details.
Kaum zu glauben? Fragt eure Grossmütter ...
Und aus jener Zeit der radikalen Ideen und Mittel rührt immernoch die Aversion gegen "Feminismus", die Angst, Frauen wollten umgekehrte Verhältnisse: der Mann diene der Frau, die sich verwirklicht und aktiv der Welt gegenüber tritt, der Mann würde quasi kastriert: ersetzt, erniedrigt, entmachtet.
Dabei wollten sie immer nur Partnerschaft - selbst die radikalsten, die ich kennenlernte.
Diese sehr kluge Frau, damals Beraterin von Alice Schwarzer (die den Rat nicht wirklich annahm), habe ich ein Wochenende erlebt:
Wikipedia: Senta Trömel-Plötz(Darüber einen extra Beitrag, die war sehr klug und spannend)
Um eine Revolution in Gang zu bringen, braucht es radikale Gedanken. Vielleicht wird es dann doch ein langwieriger Gang durch Instanzen und Verhältnisse, aber das Ergebnis, das heute zu sehen ist, lässt sich aus damaliger Sicht nur gut heissen:
Frauen und Männer denken über ihre Wünsche nach, nicht über auszufüllende Rollenvorbilder. Sie überlegen, wie sie mit den Anforderungen der Realität, den biologischen Voraussetzungen und ihrem persönlichen Glücksanspruch zurechtkommen.
Ich bin also froh, dass Frauen sich damals in peinlichste Situationen begeben haben, sich öffentlich zum Horst gemacht haben und (wenigstens in Gedanken) radikal bis an die Schmerzgrenze waren.
Ich bin auch froh, dass die Errungenschaften heutzutage für so selbstverständlich gehalten werden wie die Einführung des Katalysators oder die Abschaffung gelber, muffiger Telefonzellen.
Vielleicht sieht auch unsere Familienmisnisterin irgendwann ein, dass sie ohne die peinlichen Feministinnen der 70er nie und nimmer ihren Job bekommen hätte.
Früher brauchte es eine Rita Süssmuth, um dieses Amt zu bekommen ...
Wikipedia: Rita SüssmuthHeute liest sich der Lebenslauf der Ministerin übersichtlicher:
Wikipedia: Kristina Schröder(Nun mag man über Kompetenz und Quotenregelungen streiten, aber Frau Schröder bekam das Amt von den Leitwölfinnen auch nicht zugeteilt, um es neu zu erfinden, sondern um die Lücke möglichst reibungslos zu füllen. Und sie hat noch ein Jahr Zeit ...)
Hm. ich sollte lernen, mich kürzer zu fassen ... aber das Thema bewegt mich wirklich.