em123456789012 schrieb:Spüren Opfer ob sie jemanden anderen über gewisse Dinge erzählen können die sie sonst für sich behalten würden?
Leider nein, zumindest nicht annähernd so oft wie es wünschenswert wäre.
Obwohl es erfreulicher Weise immer üblicher wird Menschen die in Berufen/Umfeldern tätig sind in denen fundierte Kenntnisse rund um das Thema Missbrauch sehr wichtig ist auch Zugang zu entsprechenden Weiterbildungsmaßnahmen zugänglich zu machen bleibt der Anteil der Missbrauchsopfer die sich jemandem (zeitnah) anvertrauen viel geringer als es wünschenswert wäre.
Manche Opfer teilen sich einem guten Freund mit, den sie aber bitten das für sich zu behalten, andere teilen sich nie oder erst sehr spät mit.
Ich habe mal ein Paper über dieses Thema gelesen.
Ich weiß nicht mehr ob der Verfasser Psychologe oder Pädagoge war, aber das ist auch nicht so wichtig.
Wichtig (und sehr interessant) fand ich es, dass er die These erörtert hat ob die Annahme, dass viele Missbrauchsopfer sich aus Scham nicht oder erst sehr spät mitteilen nicht zumindest teilweise fehlerhaft ist.
Er vertrat viel eher die Ansicht, dass alles zu der von
@Tussinelda genannten "Quelle" zurückzuführen ist: dem Vertrauen.
Statistisch betrachtet geschieht Missbrauch nur selten durch "Fremde".
In den häufigsten Fällen stehen sich Täter und Opfer nahe.
Oft so nahe, dass der Täter aus der Familie oder dem engsten Bekanntenkreis des Opfers kommt, jemand der Teil der Familie/des engsten Freundeskreises war bevor sein späteres Opfer überhaupt geboren wurde.
Das heißt also nicht nur, dass der Täter häufig jemand ist der für das Opfer eigentlich eine Vertrauensperson sein müsste, der Missbrauch auch häufig in einem Alter stattfindet in dem sich das Urvertrauen noch "entwickelt", sondern das Opfer (oft auch durch Manipulation durch den Täter) sich kaum vorstellen kann, dass eine "Anschuldigung" überhaupt geglaubt werden würde.
Wer also einen Missbrauch erfährt durch eine Vertrauensperson...
Wie wahrscheinlich ist es dann, dass dieses Opfer einen positiven Ausgang für wahrscheinlich hält, wenn es sich jemandem anvertraut zu dem die Beziehung nicht auch nur annähernd so eng ist wie die zum Täter.
Es wurde auch erwähnt, dass Missbrauchsopfer, tatsächlich oft "spüren", wenn sie auf jemanden treffen, der sich in einer ähnlichen Lage befindet und diese Menschen sich dann auch häufig einander öffnen.
Leider teilen sie aber üblicher Weise nicht nur das Schicksal missbraucht wurden zu sein, sondern auch den Umstand, dass dieser Missbrauch von einer Vertrauens- bzw Bezugsperson ausging, aus dem restlichem Umfeld keine Hilfe kam (teils weil der Täter geschickt genug war seine Taten geheim zu halten, teils weil andere Vertrauenspersonen ihnen nicht geglaubt oder sie für diese "unverschämten Anschuldigungen" sogar in irgend einer Form bestraft haben.
Durch diese Gesamtumstände teilen diese Opfer folglich auch häufig die Ansicht, dass eine Anzeige, das Zuziehen eines Vertrauenslehrers oder, oder keine Option zur Verbesserung der Situation ist.
Der Autor kam zu dem "Diskussionsausblick", dass diese Beziehungen zu anderen Opfern zwar im Grunde erst einmal gut sind, weil der Schmerz nicht mehr alleine bewältigt werden muss und zum Teil sogar Scham abgebaut werden kann, weil man sich nicht selbst davon "freisprechen" muss am Missbrauch keine Schuld zu tragen, sondern den jeweils Anderen davon überzeugen kann.
Allerdings bestärken sich solche Opfer wohl auch häufig darin keine Person oder Stelle hinzuzuziehen, die einschreiten könnte um die Missbrauchssituation zu beenden und/oder dafür zu Sorgen, dass der Täter bestraft und dem Opfer auf allen erdenklichen Wegen geholfen hat.
Denn wie gesagt:
"geteilt" werden nicht nur die schmerzhaften Erfahrungen, sondern auch der verlorene Glaube an das Eingreifen einer Vertrauensperson mit entsprechender Autorität.
Da ich nicht vom Fach bin kann ich nicht sagen wie hoch der Stellenwert dieser aufgestellten Thesen und der Ausblick dieses Papers ist, aber es las sich alles ziemlich plausibel und passte auch zu den Erfahrungen, die ich mit missbrauchten bzw misshandelten Kindern und Jugendlichen gemacht habe.