Aussteiger
08.09.2012 um 10:01
Mal ein Zufalls-Beispiel aus dem Net:
Einsiedler von Kobern-Gondorf
Sie nannten ihn „Waldmensch“
08.05.2007 · Joseph Paccione kam aus der New Yorker Bronx ins Provinznest Kobern-Gondorf. Tourist war er nicht lange, er musste sich sein Geld als Salatwäscher verdienen. Danach folgte die Arbeitslosigkeit. Bevor er in der Untersuchungshaft landete, lebte er 18 Monate als Einsiedler im Wald. Rainer Schulze hat ihn im Gefängnis besucht.
Von Rainer Schulze Artikel Bilder (4) Lesermeinungen (5)
© SWR
18 Monate im Wald, nun im Gefängnis: Joseph Paccione
Seine Augen sind die Farbe des Waldes gewohnt, seine Nase den Geruch feuchter Erde, sein Ohr den rauschenden Bellbach, der sich in kleinen Kaskaden den Weg zur Mosel bahnt. „Ich habe gelernt, die Natur zu lieben“, sagt Joseph Paccione, und Wehmut liegt in seiner Stimme. Achtzehn Monate lang hat er in der Freiheit des deutschen Waldes gelebt. Seit sieben Wochen sitzt er nun in einer Zelle, die wenige Quadratmeter misst. Das Besuchszimmer ist das größte der Justizvollzugsanstalt Koblenz, und doch wirkt es eng.
Joseph Paccione ist kein Waldschrat. Kein Saddam-Bart, keine schwarzen Ränder unter den Fingernägeln. Die Haut ist leicht gerötet wie nach einer frischen Rasur. Ein paar Stoppeln über der Oberlippe hat er übersehen. „Ich bin kein Neandertaler, kein Rübezahl“, sagt er vergnügt - und wirkt in seiner roten Jogginghose und dem türkisfarbenen T-Shirt nicht wie ein Kauz. „Eigentlich bin ich ein netter Kerl.“
Zwischen Konservendosen und Erdnussbutter
Joseph Paccione kämpft um seine Biographie. Die Deutungshoheit über sein Leben haben längst andere beansprucht. Wer sich in Kobern-Gondorf umhört, bekommt mehrere Versionen der Geschichte des Einsiedlers zu hören. In dem verschlafenen Weindorf kurz hinter Koblenz, in dem Metzgerei und Reinigung noch eine Mittagspause machen, war Joseph Paccione eine Art lebendes Phantom. Kobern-Gondorf ist ein Dorf, von dem es heißen könnte, dass in ihm soundsoviel „Seelen“ leben. Hier sind es 3286. Und auch das stimmt: Hier kennt tatsächlich jeder jeden. Einer wie Joseph Paccione, der mit amerikanischem Akzent Brötchen beim Bäcker bestellt, im Norma Wasser kauft und nahezu täglich in Richtung Belltal davonradelt, bleibt nicht unentdeckt.
© dpa
Seit Jahren keinen Rasenmäher gesehen: Das verlassene Haus
Im Frühling ist das Belltal ein kleines Biotop. Keine drei Kilometer nach dem Ortsschild, auf dem Kobern-Gondorf rot ausgestrichen ist, passieren im Frühjahr Hunderte Radfahrer, die dem Lauf der Mosel folgen, den Talausgang. Wenn sie links abbiegen und 300 Meter bergan radeln, finden sie drei Häuser, eins verfallener als das andere. Es ist schön hier, wild und verwunschen. Ein Essigbaum reckt seine Blüten in den Himmel, die Sonne leuchtet warm auf eine Wiese, die seit Jahren keinen Rasenmäher mehr gesehen hat. Hier also hat er gewohnt. Zwischen Konservendosen und einem Erdnussbutterglas.
Aus der Bronx nach Koblenz
Im oberen Stockwerk einer verfallenen Ruine hat es sich Joseph Paccione nicht gerade gemütlich gemacht. Oder die Polizei hat ganze Arbeit geleistet, als sie seine Bleibe durchwühlte. Eine Isomatte liegt herum, ein Dosenöffner, ein blaues Taschenmesser: Campingutensilien. Es gab Nudeln mit Fleischklößchen, Hühner-Reistopf und Orangen. Das Verfallsdatum auf den Joghurtbechern datiert vom 10. April. Duschgel, Rasierschaum, eine Zahnbürste. Er soll stets gepflegt gewesen sein.
Als Tourist war der frühere Gartenbaustudent im Jahr 2000 aus der Bronx - „dem Ghetto“, wie er sagt - nach Deutschland gereist. Es sollte nur eine Station sein auf der geplanten Europareise. Die Weinberge gefielen ihm, er blieb. Zunächst jobbte er in der American Sportsbar in Koblenz, später wusch er Salat bei Burger King. Dann verließ ihn das Glück. Die Beziehung zu seiner deutschen Freundin fand ein Ende, die Arbeitslosigkeit fand ihn. Kein Aussteiger, der an der Gesellschaft krankte und den Rückzug aus der Zivilisation wählte? „Ein bisschen vielleicht schon. Aber es war auch Zufall.“
Gezeichnetes überdimensionales Hanfblatt
Er ging in den Wald und fing an zu lesen. Durch lange Winterabende half Lektüre, die etwas wahllos wirkt. Eine zerfledderte Biographie von Tokio Hotel liegt neben Thomas Manns frühen Erzählungen und etlichen populärwissenschaftlichen Bänden: „Bausteine unserer Welt“, „Die Urkraft: Auf der Suche nach einer einheitlichen Theorie der Natur.“ Seine Lesespuren sind auf dem Boden verstreut. Eine Bismarck-Biografie und „Die große illustrierte Länderkunde“. Joseph Paccione ließ sich von ihnen inspirieren. Ein Buch vermisst er vor allem: sein eigenes. Als er vor zwei Jahren Job und Freundin verlor, nahm er sich vor, selbst zu schreiben. Das Manuskript ist verschwunden. Es ist ein Mammutprojekt, das nach Hybris und Naivität klingt. Eine Art Menschheits- und Naturgeschichte schwebte ihm vor: „Vom Urknall bis zu George Bush.“
Im Belltal muss es manchmal sehr einsam gewesen sein. Vielleicht hatte Joseph Paccione Sehnsucht nach Gesellschaft. Ein paar Seiten mit Katzennamen, die jemand ins Internet gestellt hat, liegen auf dem Boden. An der schrägen Wand der Dachkammer prangt ein mit Buntstiften gezeichnetes überdimensionales Hanfblatt. Vielleicht hat sich der Einsiedler lange Abende mit einem Joint verkürzt. Ein Spaziergänger hielt einen Bambusbusch vor der Tür für eine Hanfplantage.
Die Nachbarin nannte er „Mum“
Ende März rückte die Polizei mit Hundestaffeln im Belltal ein. 148,5 Gramm Cannabis-Pollen fand sie in Joseph Pacciones Behausung. Seither sitzt er in Untersuchungshaft. Eine Anklageschrift wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz liegt vor. Sein Anwalt rechnet mit einer Bewährungsstrafe von bis zu einem Jahr. Ein Antrag auf Haftentlassung habe bis zur Verhandlung wenig Sinn. Da Joseph Paccione keinen festen Wohnsitz hat, sieht die Staatsanwaltschaft Fluchtgefahr.
Irgendwann fingen die Kobern-Gondorfer an, ihren Amerikaner den „Waldmenschen“ zu nennen. Die Angler, erzählt die Besitzerin der Lotto-Annahmestelle, waren die ersten. Die ihn persönlich kannten, reden nur gut von ihm. Am Ausgang des Tals wohnt Karin Yacoubou mit ihrer Familie. Sie kamen regelmäßig ins Gespräch - wie gute Nachbarn. „Übers Wetter, nichts besonderes.“ Einmal erzählte ihr Joseph Paccione, der sie „Mum“ nannte, dass er als Waldarbeiter in Kanada gearbeitet habe. „Ein kluger, ruhiger Mann.“ Von Achim Matzelt, dem Friseur, der wie ein Wasserfall redet, hat er sich immer die Haare schneiden lassen. Joseph Paccione kam wie jeder gute Kunde alle vier Wochen vorbei und nutzte den Haarschnitt für ein ausgiebiges Schwätzchen. Was hat er ihm erzählt?
Geld ins Gefängnis geschickt
Von seinem Wohnzimmer aus habe er noch das World Trade Center gesehen. Dann sei er vor Bush geflohen, habe es in Amerika nicht mehr ausgehalten. Ein Radfahrer, ein Naturmensch sei er gewesen. Mit Matzelts Vater habe er sich lang über den Zweiten Weltkrieg unterhalten. „Der war in Ordnung. Und der kommt auch wieder.“ Wie Matzelt sehen viele in Kobern-Gondorf den „Waldmenschen“ als einen der Ihren. Nachbarn haben Geld ins Gefängnis geschickt, damit sein Alltag dort etwas angenehmer wird.
In Matzelts Salon spitzen zwei Rentner die Ohren. „Mach' die Leut' nicht verrückt“, grummelt einer. Eine überflüssige Warnung, denn das tun sie schon selbst. Gerade wer ihn nicht kannte, setzt eifrig Gerüchte in die Welt. Die Geschichte erfährt eine Wendung. In Kobern-Gondorf lässt sich studieren, wie eine Legende gebildet wird. Joseph Paccione habe Bierkästen auf seinem Fahrrad transportiert, heißt es. „So ein Quatsch“, sagt der Friseur, „es war nur Wasser.“
Auf dem „Schwulenparkplatz“ Geld verdient?
In der Kneipe am Marktplatz sitzt ein älterer Herr, dessen Nase nicht von der Sonne gerötet ist, vor seinem Schoppen. „Der hat mein Fahrrad geklaut. Schreiben sie das.“ Im Nachbarort Wolken beschweren sich zwei Männer, der Waldmensch sei mit ihrem Motorroller durchgebrochen. „Der hat einfach das Schloß aufgepitscht“, sagt Klaus Rätz und zeigt ungläubig auf das neue Vorhängeschloss seines Schuppens.
Die Polizei hat verschiedene Delikte überprüft. Ohne Ergebnis, sagt Pacciones Anwalt. Und noch etwas streut Herr Rätz ein, ohne dass man den Wahrheitsgehalt überprüfen könnte: Er sei bestimmt „zu dem Schwulenparkplatz“ gefahren. Woher er das wisse? Das erzähle man sich. Auf dem Rastplatz „Goloring“ an der A 48 zwischen Koblenz und Trier bieten Stricher ihre Dienste an. Die Spekulationen schießen nur so ins Kraut. „Von irgendwas muss der ja gelebt haben.“
„Wie ein nackter Frosch im Wald“
In der Tat habe er von etwas gelebt, sagt Joseph Paccione. „Von meinen Ersparnissen.“ Immerhin habe er fünf Jahre lang gearbeitet. Gebraucht habe er im Wald nicht viel. Keine Heizung, keinen Strom, keine Miete. Mit fünf, sechs Euro am Tag sei er über die Runden gekommen. Seine größte Sorge war zu verwahrlosen. Täglich hat er darum an der Esso-Tankstelle geduscht. Im Sommer auch draußen. „Wie ein nackter Frosch im Wald.“
Wie ist es, wenn man seine Geschichte in der Lokalzeitung liest? Was richten diese „Waldmensch“-Gerüchte an? „Ich finde das komisch. Sie denken, ich sei ein Kannibale.“ Die Kontrolle über seine eigene Geschichte entgleitet ihm. „Darum möchte ich mich der Welt vorstellen.“ Er tut dies unbeholfen, aber stolz. Der SWR will an diesem Dienstag in der „Landesschau“ einen Beitrag bringen.
„Hi Mum“, sagt Joseph Paccione und winkt albern in die Kamera. Zu seiner deutschen Mutter hat er keinen Kontakt mehr. Sein italienischer Vater hat ihn vermisst gemeldet. Es bleiben Leerstellen. Warum hat er sich nicht gemeldet? „Ich bin kein kleiner Junge mehr.“ Die Zukunft ist ein leeres Blatt. In Deutschland sei sein Leben zerstört, die Existenz in Trümmern. Vielleicht zieht es ihn zurück nach Amerika. Dort, so hat er gehört, habe sich viel verändert. Eine nette Frau will er finden. „Sie muss die Natur so lieben wie ich.“