Wie sehr hat euch das Mobbing im späteren Leben verändert?
22.10.2015 um 11:06
Nachdem ich Jahrzehntelang in der Verlagsbranche mit wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Psychologie/Psychiatrie befasst war, habe ich nach Ende meiner Tätigkeit für meinen Arbeitgeber, einen multinational operierenden Wissenschaftsverlag, umsatteln müssen und arbeite seit über einem Jahr in einer psychiatrischen Einrichtung als "Betreuer". Nach der Theorie also die Praxis. Das ist, wenn man so will, keine medizinisch-therapeutische Aufgabe, sondern nur so eine Art "Dasein" für die Patienten/Klienten, als Ansprechpartner, Zuhörer, Vermittler. Wenn man so will, eine Art Telefonseelsorger ohne Telefon und ohne Theologie. Demnächst beginne ich eine Ausbildung als Demenzbetreuer. Man ist nie zu alt, um noch dazu zu lernen.
Vor Beginn meiner Tätigkeit haben mich viele Leute gewarnt: Uh, ist das nicht gefährlich, verantwortungsvoll, anstrengend etc. Ja, verantwortungsvoll sicherlich, aber die beiden anderen Punkte treffen, jedenfalls auf Basis meiner bislang gemachten Erfahrungen, keinesfalls zu. Der "Irre", im (mediengestützten) Vorurteilsbild von vermeintlich psychisch Gesunden ist entweder so eine Art Axt schwingender Shining-Hauptdarsteller, ein Depressiver, den man dauernd irgendwo abschneiden muss oder ein apathisches, zugedröhntes Medikamentenwrack. Ja, dass kann er/sie auch sein - aber die Regel ist das nicht. Ich habe im Laufe meines Lebens noch nie so geballt interessante Menschen mit aufregenden, beeindruckenden, oft auch erschreckenden Lebensgeschichten kennen und schätzen gelernt.
Ich habe mich einfach über meine eigenen Vorurteile hinweg gesetzt und bemühe mich, unabhängig von tatsächlich oder angeblich selbst- oder fremddiagnostizierten "Störungen", den Menschen zu sehen. Und der ist zunächst einmal so ganz normal verrückt wie alle anderen auch. Natürlich habe ich Einblick in die Krankenakten - weigere mich aber, mir diese anzusehen, um eben genau keine vorgefassten Bilder und damit auch Vorurteile im Kopf zu haben: Ach, Herr A. ist depressiv, Frau B. ist suchtkrank, Herr C. hat Halluzinationen, Frau D. ist Borderlinerin usw. Zack, ab in die Schublade! Für mich sind sie alle in erster Linie vollwertige Gesprächspartnerinnen, mit denen ich so umgehe, wie ich mir wünschen würde, dass man mit mir umgehen würde, wenn ich in der ungewohnten, na gut, für einige durchaus gewohnten, Umgebung einer psychiatrischen Fachklinik sitzen müsste.
Die Störung/Erkrankung thematisiere ich nur, wenn mein Gesprächspartner dies will: "Letzte Nacht waren da wieder diese Stimmen im Kopf!" Dann sind für mich diese Stimmen, die mein Gesprächspartner hört, zunächst einmal so real wie für ihn. Wenn sie ihn beschimpfen, ihn zu bestimmten Handlungen drängen, dann gehe ich damit so um, als würde ihm jemand "reales" das sagen. Wie gesagt: Ich bin nur Gesprächspartner, kein Therapeut. Daher habe ich auch keine Planvorgaben, keine Therapien, keine Bewertungen vorzunehmen oder zu absolvieren. Ich bin einfach nur der nette ältere Herr, der zuhört, Fragen stellt, Ratschläge gibt - ganz so, wie ich es bei jemandem "draussen" auch täte.
Jeder von uns kann auf Grund besonderer Lebensumstände psychische Probleme bekommen. Heute Du, morgen ich. Möchte man dann komisch angesehen und ausschliesslich auf seine Erkrankung reduziert werden?