Ich rolle die Sache mal von hinten auf, da ich nicht weiss, wieviel Zeit ich jetzt habe und ob sie reicht alles zu beantworten. Ich beginne also mit dem Beitrag von
@asadeh und wende mich dann später dem von
@mr_majestic zu.
@asadeh Das mag alles richtig sein, wobei mir der Beitrag sehr aus deutscher Sicht geschrieben scheint, hier ist die Situation ein wenig anders, wenn es um die Gutachten geht. Aber im Prinzip ist das richtig mit einer entscheidenden Ausnahme:
Ja, eine Strafverteidigung in einem Mordprozess, der ein Indizienprozess sein wird, wird vermutlich recht viel Geld kosten, allein schon für die Gutachten. Bei einer Vertretung durch einen selbst beauftragten Anwalt - in so einem Fall wie diesem hier in der Regel durch ein Anwaltsteam - werden die Gutachterkosten in dem Kostenvoranschlag mit eingepreist, aber in der Regel separat abgerechnet. Ein Kostenvoranschlag von $ 500,000 für einen solchen Doppelmordfall ist hoch, aber nicht unglaublich hoch.
Da kommen nun berechtigte Fragen wie z.B. "Wer kann sich das denn leisten?" Nun, da gibt es in der Regel zwei Klassen von Mandanten: einmal diejenigen, die wirklich reich sind. Ein mir konkret bekannter Fall war ein Mordprozess gegen den Ehemann des Mordopfers. Nach zwei Jahren Untersuchungshaft kam es zu einem Prozess, Indizien und Gutachten spielten kaum eine Rolle, es ging weit mehr um Zeugenaussagen. Einer der damals sogenannten besten Strafverteidiger New Yorks und sein Team übernahmen den Fall. Der Mandant war recht wohlhabend, aber der Prozess kostete ihn mehr als $ 1 Million. Er musste eine von mehreren Immobilien verkaufen, die er besass, um das bezahlen zu können. Der Anwalt war teuer, es hätte auch billigere gegeben. Aber der Anwalt war sehr gut. Ich hatte das Privileg in diesem Prozess involviert zu sein und konnte seine Arbeit beobachten. Der Fall endete mit einem Freispruch obwohl zu Beginn kein Beobachter auch nur $ 10 darauf gewettet hätte. Für den Mandanten, dem eine lebenslange Freiheitsstrafe drohte, war jeder Dollar die Sache Wert.
Das ist die Klasse Mandanten - und ihre Anwälte - in welche Leute wie OJ Simpson etc. gehören. Mandanten, die sich leisten können $ 600 pro Stunde Anwaltsgebühren zahlen zu können. Davon gibt es nicht viele, aber diese sind oft in den Medien.
Die andere Klasse sind die typische Mittelschicht. Mittlere Einkommen, Immobilienbesitz, bescheidene Ersparnisse. Also ungefähr wie die Familie von JS. Steht ein solcher Mandant einer Mordanklage gegenüber wird es sich vermutlich nicht den besten Anwalt der teuersten Stadt Amerikas leisten können, wie im oben beschriebenen Fall. Er wird sich eine Ebene darunter bewegen, wo es immer noch hochkompetente und hochmotivierte Anwälte gibt. Kosten, sagen wir mal, $ 500,000. Womit bezahlen? Meist mit einer Kombination aus Ersparnissen und Immobilienbesitz. Wenn sie Glück haben, können sie eine Hypothek aufnehmen und brauchen ihr Haus nicht verkaufen. Andere müssen das tun, aber sie sagen Freiheit ist mir wichtiger. Da viele amerikanische Häuser in der Regel heutzutage um die $ 300,000 wert sind, ist es gar nicht so unmöglich, eine solche Summe aufbringen zu können.
So, was aber nun, wenn man auch das Geld nicht hat? Die dritte Option, die auch JS hatte, die wurde hier komplett vergessen: man lässt sich einen Pflichtverteidiger bestellen. Das Mandat beinhaltet alle Kosten der Verteidigung, also auch die Gutachten! In manchen Bundesstaaten kann man das sogar aufteilen, z.B. einen Wahlverteidiger beauftragen aber dann den Antrag stellen, die Gutachterkosten durch den Staat übernehmen zu lassen.
Und das ist keine schlechte Option. Ich traf vor Kurzem eine ehemalige Beschuldigte, die ebenfalls des Mordes angeklagt war. Ihr Fall war sehr Indizienlastig. Das Pflichtverteidigerbüro investierte drei Anwälte und 5 Gutachter in ihren Prozess. Erfolgreich. Gekostet hat sie das keinen Cent.
In der grossen Mehrheit der Prozesse wird ein Mandant hier durch Pflichtverteidiger vertreten. Auch unter diesen gibt es freilich gute und schlechte, und der Sparzwang kann durchaus Auswirkungen haben, aber es heisst nicht, dass man keine adequate Verteidigung bekommen kann.
Diese Option hätte JS also jederzeit gehabt, wenn er, oder seine Familie, oder seine Unterstützer der Meinung gewesen wären, die Verteidigung sei schlecht. Und wenn man den heutigen Unterstützern glauben darf, dann hätte es ja eh schlechter nicht kommen können.
Aber, wie schon oft hier betont, scheint es weder während noch direkt nach dem Prozess jemanden gegeben zu haben, der die Qualität der Verteidigung bemängelt hat, denn sonst wäre Neaton wohl nicht auch noch als Revisionsanwalt gewählt worden.
Ich kann es nicht unbedingt beurteilen, ob Neaton gut oder schlecht war. Ich werde aber mal zu dem fiktiven Fall, dass ich der Verteidiger von JS wäre Stellung nehmen.
Dazu noch an
@Bluelle Ich bin nicht in diesem Thread aktiv um meine Sicht als Verteidiger von JS darzulegen. Natürlich würde ein Verteidiger dessen Position hoffnungsvoller darstellen als ich das hier tue. Ich bin in diesem Thread, weil es mich interessiert hat, ob wir es hier mit einem "Justizskandal" zu tun haben oder nicht. Ich sehe mir den Fall also eher mit den Augen eines Juroren an. Ich frage mich immer wieder: wenn ich in dieser Jury gesessen hätte, hätte ich für schuldig gestimmt oder nicht? Und bisher habe ich nichts gelesen, was mich dazu bewegt hätte, "unschuldig" zu stimmen.
Anders als die echte Jury in diesem Fall kenne ich die Beteiligten nicht persönlich und habe ich natürlich nicht den gesamten Prozess verfolgt. Ich urteile allein aus meiner persönlichen, beschränkten Kenntnis. Aber das ist eben mein Urteil aus meiner persönlichen Überzeugung. Würde ich in einer Jury sitzen und nur das präsentiert bekommen, was ich von diesem Fall hier weiss, ich würde für "guilty" stimmen.
Es mag sein, dass ich als Verteidiger von JS den Fall ganz anders angepackt hätte. Aber das ist für mich hier bisher nicht die Fragestellung gewesen.