Lewis Grassic Gibbon - The Sunset SongIn grade mal sechs Wochen hat sich 1932 der knapp 30-jährige schottische Schriftsteller Lewis Grassic Gibbon diesen Roman aus der Seele geschrieben, der in den darauffolgenden Jahren eine Trilogie werden soll.
Der Roman spielt in den Jahren 1911 bis 1918 in dem fiktiven Dorf Kinraddie in der realen ostschottischen Region Mearns an der Ostküste südlich von Aberdeen und nördlich von Stonehaven. Dorf ist eigentlich übertrieben, es ist eine Ansammlung von meist gepachteten Gehöften plus einer Kirche und einer Mühle. Einkaufsmöglichkeiten gibt es nur in den Städten, die meisten leben in Subsistenzwirtschaft. Die Zivilisation existiert in manchmal vorbeifahrenden Autos, der Eisenbahn und der Schule, in welche die Kinder nach Stonehaven fahren müssen.
In vier Kapiteln, die den bäuerlichen Jahreszyklus spiegeln (“Ploughing”, “Drilling”, “Seedtime”, “Harvest”), wird das Leben einer jungen Frau, Chris(tine) Guthrie, offengelegt. Als Schülerin ist sie gespalten zwischen einem gebildeten, englischen Leben mit dem Berufswunsch Lehrerin, sie entscheidet sich jedoch, den Pachthof ihrer Eltern weiterzuführen.
Was Gibbon vor Augen führt, ist jedoch keine bäuerliche Idylle. Das Kapitel "Ploughing" (Pflügen) endet damit, dass ihre Mutter sich und die spätgeborenen Zwillinge vergiftet, als sie von ihrem brutalen und selbstsüchtigen Mann wieder schwanger wird. In "Drilling" (Eggen) stirbt ihr Vater, der Avancen macht, mit seiner Tochter schlafen zu wollen, an einem Schlaganfall und hinterlässt seiner Tochter ein mühsam angespartes Erbe zu ihrer freien Verfügung. Sie entscheidet sich, den Hof weiterzuführen.
In "Seedttime" (Saatzeit) heiratet die 17-Jährige einen jungen Mann namens Ewan, der - wie auch ihr Vater - einen zwiespältigen Charakter aufweist. Er kann sehr liebenswürdig, aber auch egomanisch aggressiv sein. Auf jeden Fall ist er ein begnadeter Landwirt. Am Ende dieses Kapitels kommt ein Sohn zur Welt, aber es gibt kein Happy End mit bäuerlicher Familienidylle.
In "Harvest" (Ernte) bricht die große Welt in dieses kleine Dorf in Form des Kriegs ein. Nach einem Streit schließt sich Ewan einer schottischen Armeeeinheit an, und bei seinem Heimaturlaub vor der Abfahrt an die Front nach Frankreich ist er ständig betrunken und behandelt seine Frau wie eine Nutte. An der Front wird Ewan als Deserteur erschossen, aber ein Dorfbewohner, der auch an der Front war, berichtet Chris, dass Ewan wie aus einem Traum erwacht sei und den Schützengraben verlassen habe, um zu seiner geliebten Frau, dem Kind und dem Hof zurückzukehren. Wie ein Schlafwandler wurde er zehn Kilometer hinter der Front aufgegriffen. Nach Ende des Kriegs und nach Ende der Trauerzeit heiratet Chris einen neu ins Dorf gezogenen Priester.
Es ist aber nicht nur die Geschichte einer Frau, die Gibbon schreibt, er präsentiert anhand der Dorfbewohner die Zerrissenheit der schottischen Bevölkerung.
Der Müller ist Pazifist, wird zwangseingezogen, er weigert sich zu kämpfen, wird im Gefängnis gefoltert, und als er in Hungerstreik tritt, wird er zurück in sein Dorf verfrachtet. Die Bewohner jedoch akzeptieren sein Verhalten nicht und bringen ihm kein Getreide mehr zu mahlen. Er meldet sich frewillig zurück in den Krieg und stirbt im Kampf.
Ein weiterer junger Mann ist Sozialist und hofft, dass der Krieg dem Proletariat lehrt, Waffen zu führen, um zu einer freien, gleichen und friedlichen Gesellschaft den Kampf weiterführen zu können. Auch er stirbt im Krieg.
Will, der Bruder von Chris, der von seinem Vater oft geschlagen wurde, bis er als Jüngling ihm androht, zurückzuschlagen, zieht nach Argentinien, um einen Farm zu leiten. Während des Krieges kommt er in einer bunten Uniform zu Besuch. Er erzählt, wegen des gutherzigen französischen Gutsbesitzers habe er bei der Fremdenlegion konskripiert, um Frankreich zu verteidigen. Böse Zungen im Dorf behaupten, er sei deutscher Ulan.
Aber auch für die im Dorf Gebliebenen ändert sich viel. Der Wald im Westen, der gegen Stürme einen Schutzwall gebildet und Getreideanbau ermöglicht hat, wird zur Gewinnung von Holz für den Flugzeugbau gerodet, immer mehr Bauern wechseln zur Viehzucht (Hühner, Schafe), die im Krieg sehr gewinnbringend ist. Erste Inkubatoren kommen zum Einsatz.
Sprachlich verwendet Gibbon viele Wörter aus dem Scots. Scots ist ein im Osten Schottlands gesprochenes Englisch mit vielen Wörtern aus dem Alt-Skandinavischen. Das Oxford-Dictionary in meiner Kindle-App war sehr hilfreich, aber nicht für alle Wörter. Dafür gab es dann auch Aha-Erlebnisse, wie dass
kye einfach Kühe sind.
2018 hat die Schriftstellerin und Übersetzerin Esther Kinsky mit dem Titel
Lied vom Abendrot ins Deutsche übersetzt, indem sie die Wörter aus dem Scots mit welchen aus dem
Plattdeutschen aufgefüllt hat.
Hintergrundinformationen zu diesem Roman bzw. Gibbton bieten die
BBC und das
Times Literary Supplement.