Michael Ende - MomoDas 1973 erschienene Buch habe ich noch nie gelesen, als Kind oder Jugendlicher hat mich scheinbar Esoterisches nicht so sonderlich interessiert, aber ich muss konstatieren, es scheint gut gealtert zu sein und ist nett zu lesen.
Die Konstellation dürfte manchen bekannt sein: Momo lebt in einer Art Höhle in einem römischen Amphitheater am Rande einer ungenannten, aber deutlich als italienisch erkennbaren Stadt. Sie ist ohne Eltern und bereits mehrfach aus einem Waisenhaus abgehaut. In ihrem Amphitheater sammelt sie Freunde um sich, Kinder und Erwachsene (Gigi Fremdenführer, Beppo Straßenkehrer, den Gastwirt Nino oder den Maurer Nicola). Sie spielen miteinander und Momo hat die Gabe, anderen Menschen zuhören zu können (als eine Art Psychotherapie).
Eines Tages kommen graue Männer mit grauen Anzügen, grauen Autos, grauen Taschen, grauen Hüten und grauen Zigarren in die Stadt, welche den Bewohnern Zeitsparbücher andrehen. Die Menschen werden hektisch, arbeiten immer mehr, um Zeit zu sparen, haben keine Zeit mehr füreinander, aber sie werden auch reich (Gigi zum Beispiel wird Fernsehstar). Kinder werden in sogenannte Kinder-Depots gesteckt, wo sie erzogen werden und Lernspiele spielen.
Ein grauer Mann, der Momo mit einer schönen Puppe und vielen Spielsachen für die Zeitsparkasse werben wird, verrät ungewollt nach Momos Frage "Hat dich denn niemand lieb?" das Geheimnis: Die Zeit wird den Menschen nicht mehr zurückgegeben, sondern die grauen Männer ernähren sich selbst von der Zeit der Menschen. Ohne diese gestohlene Zeit würden sie nicht existieren, sondern sie lösten sich in Nichts auf.
Da es ja ein modernes Märchen ist, führt Kassiopeia, eine Schildkröte mit Sprachausgabe am Rücken, sie ins Niemalshaus von Meister Horus, dem Verwalter der Zeit. Dort lernt sie die Stundenblume kennen, die jeder Mensch als Zeitquelle für sich hat. Die grauen Männer sammeln die gestohlenen Stundenblumen in einem Tiefkühlraum, und die gefriergetrockneten Blätter werden zu Zigarren geformt. Ohne Rauch dieser Blätter lösen sich die grauen Männer auf.
Meister Horus und Momo wollen die Herrschaft der grauen Männer brechen und den Menschen ihre Zeit wieder zurückgeben. Dies gelingt auf märchenhafte Weise. Meister Horus legt sich schlafen und damit steht die Zeit still. Alles erstarrt, nur Momo mit Hilfe einer Stundenblume, Kassiopeia aufgrund ihres eigenen Metabolismus und die grauen Männer nicht. Momo verfolgt die grauen Männer in ihr Hauptquartier, wohin sie aus Panik geflohen sind, sie reduzieren sich auf sechs Personen, doch Momo gelingt es, die Türe in den Stundenblumen-Tresorraum zu schließen. Als die letzte Zigarre abgebrannt ist, gibt es keine grauen Männer mehr. Momo öffnet den Tresorraum, die aufgetauten Stundenblumen fliegen zu ihren Menschen zurück und die Welt ist wieder wie zuvor.
Eine Frage wird auch aufgelöst, woher nämlich die Grauen Männer stammen. In einem Abschnitt wird erklärt, dass sie von den Menschen selbst geschaffen werden, sich selbständig machen und die Menschen schließlich beherrschen.
In einem Interview erklärt Ende, dass er bei den grauen Männern an Manager-Typen gedacht hat. Interessant jedoch ist die Gestaltung der Idee des Zeitstehlens. Dies kann durchaus als märchenhafte Darstellung der Marx'schen Werttheorie für warenproduzierende Gesellschaften gelesen werden: Die Arbeitenden geben ihre Arbeitszeit und werden unter dem von ihnen geschaffenen Wert bezahlt, der Mehrwert wird von anderen angeeignet und verwaltet. Die grauen Männer als Symbol des Mehrwerts: Durchaus eine bedenkenswerte Hypothese, und damit kann die Kritik eines esoterischen Eskapismus, der dem Werk anhaftet, auf alle Fälle abgeschwächt werden.
Zum Schluss ein Textauszug über die Kinder-Depots, der sehr gut zeigt, welche Gesellschaftsauffassung in der Welt der grauen Männer vorherrscht:
„,Kinder ohne Aufsicht", erklärten wieder andere, „verwahrlosen moralisch und werden zu Verbrechern. Die Stadtverwaltung muß dafür sorgen, daß alle diese Kinder erfaßt werden. Man muß Anstalten schaffen, wo sie zu nützlichen und leistungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden."
Und abermals andere meinten: ,,Kinder sind das Menschenmaterial der Zukunft. Die Zukunft wird eine Zeit der Düsenmaschinen und der Elektrogehirne. Ein Heer von Spezialisten und Facharbeitern wird notwendig sein, um alle
diese Maschinen zu bedienen. Aber anstatt unsere Kinder auf diese Welt von morgen vorzu bereiten, lassen wir es noch immer zu, daß viele von ihnen Jahre ihrer kostbaren Zeit mit nutzlosen Spielen verplempern. Es ist eine Schande für unsere Zivilisation und ein Verbrechen an der künftigen Menschheit!" Das alles leuchtete den
Zeit-Sparern ungemein ein. Und da schon sehr viele Zeit-Sparer in der großen Stadt waren, gelang es ihnen in ziemlich kurzer Zeit, die Stadtverwaltung von der Notwendigkeit zu überzeugen, etwas für die vielen vernachlässig-
ten Kinder zu tun. Daraufhin wurden in allen Stadtvierteln sogenannte „Kinder-Depots" gegründet. Das waren große Häuser, wo alle Kinder, um die sich niemand kümmern konnte, abgeliefert werden mußten und je nach Möglichkeit wieder abgeholt werden konnten.
Es wurde strengstens verboten, daß Kinder auf den Straßen oder in den Grünanlagen oder sonstwo spielten. Wurde ein Kind doch einmal dabei erwischt, so war sofort jemand da, der es in das nächste Kinder-Depot brachte. Und die
Eltern mußten mit einer gehörigen Strafe rechnen.
Auch Momos Freunde entgingen dieser neuen Regelung nicht. Sie wurden voneinander getrennt, je nach der Gegend, aus der sie kamen, und wurden in verschiedene Kinder-Depots gesteckt. Davon, daß sie sich hier selbst Spiele einfallen lassen durften, war natürlich keine Rede mehr. Die Spiele wurden ihnen von Aufsichtspersonen vorgeschrieben, und es waren nur solche, bei denen sie irgend etwas Nützliches lernten. Etwas anderes verlernten sie freilich dabei, und das war: sich zu freuen, sich zu begeistern und zu träumen. Nach und nach bekamen die Kinder Gesichter wie kleine Zeit-Sparer. Verdrossen, gelangweilt und feindselig ...