In diesem Thema – wie überhaupt in vielen Themen in dieser Rubrik – muss ich immer wieder feststellen, wie wenig Kenntnis der durchschnittliche juristische Laie vom deutschen Rechtssystem und seinen Problemen hat. Wie schon oft erwähnt ist das zunächst einmal nicht die Schuld des Laien, sondern die des Staates, der nicht willens ist, den Bürger von frühester Kindheit an, in den wichtigsten Grundlagen unseres sozialen Zusammenlebens, dem Rechtssystem, zu unterrichten.
Ein weiteres wenn nicht sogar gravierendes Problem sind die Juristen, die Teil des Systems sind, es eigentlich kennen sollten und damit auch seine schwerwiegenden Schwachstellen, davor aber gezielt die Augen verschließen und sich einer ehrlichen Auseinandersetzung mit dieser Problematik und damit der Ausarbeitung neuer Lösungsansätze verweigern. Der von
@JosefK1914 verlinkte exzellente und auch für Laien wie ich meine durchaus verständliche Artikel liefert dazu wichtige Hinweise und ist auf jeden Fall lesenswert für alle, die sich ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen wollen.
Um nun zu den eigentlichen Problemen vorzustoßen: Fehlurteile sind keine Einzelfälle. Dieser Umstand wird dadurch verschleiert, dass es dazu in Deutschland keine aktuellen wissenschaftlichen Studien gibt. Was es gibt, ist eine hundert Jahre und eine vierzig Jahre alte Untersuchung:
- Sello, Erich, Die Irrtümer der Strafjustiz und ihre Ursachen. Todesstrafe und lebenslängliches Zuchthaus in richterlichen Fehlsprüchen neuerer Zeit, Berlin 1911.
- Peters, Karl, Fehlerquellen im Strafprozess: Eine Untersuchung der Wiederaufnahmeverfahren in der BRD, 1970.
Wissenschaftlich erarbeitete Zahlen zu den (potentiellen) Fehlurteilen in der BRD gefällten Urteile gibt es aber nicht. Es gibt noch ein paar aktuelle Untersuchungen zur Aussage- und Vernehmungspsychologie, unter anderem auch mit Blickpunkt auf die Problematik von Justizirrtümern. Hinzu kommt dann noch das Buch von Sabine Rückert, Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen, Hamburg 2007, das auf jeden Fall wertvoll ist, auch wenn es mit einem journalistischem Hintergrund verfasst wurde.
Was man diesen Untersuchungen entnehmen kann, ist einfach: In der BRD kommt es regelmäßig zu Fehlurteilen und ihr Anteil dürfte deutlich höher liegen als 10 %. Für einen Staat, der ein Rechtsstaat sein will, ist das untragbar. Dabei sind die Ursachen für die Fehlurteile hinlänglich bekannt und das schon seit sehr vielen Jahren. Man muss nur einen Blick in die oben genannten Werke werfen, um zu wissen, wo die Probleme liegen. Der Staat reagiert aber nicht. Was absolut elementar wäre: Die Juristenausbildung gründlich reformieren. Aussage- und Vernehmungspsychologie müsste umfassend auf dem Lehrplan stehen, einschließlich ausgiebiger Übungen dazu. Dann solche wesentlichen Dinge wie: Wie erhebt man sinnvoll Beweise? Wie stellt man ein exaktes Beweisthema für einen Sachverständigen? Wie bewertet man ein Sachverständigengutachten? All das sollte außerdem viel mehr praktisch geübt werden. Eine intensivere Einvindung auch schon des Rechtsreferendars in den Prozessablauf ist unvermeidlich und darf sich nicht nur auf das Abfassen von Urteilen beschränken. Und vielleicht am wichtigsten: Den angehenden Richtern müsste intensiv klargemacht werden, dass sie fehlbar sind und dass sie sich dessen regelmäßig bewusst sind.
Dann müsste das Verfahren an sich reformiert werden. Was endlich her muss, sind klare und eindeutige Beweisverwertungsverbote. Es ist ein Unding, dass sich der deutsche Gesetzgeber bisher nicht dazu in der Lage gesehen hat, solche umfassenden Beweisverwertungsverbote zu schaffen. Die bestehenden Beweisverwertungsverbote beziehen sich nur auf wenige Verstöße gegen Vorschriften zum Schutz von Tatverdächtigen und Angeklagten. Die Zahl der Rechtsverstöße gegen Ermittlungsvorschriften geht aber weit über diese besonders krassen Fälle hinaus. Und das BVerfG ignoriert mit schöner Regelmäßigkeit die Chancen endlich in dieser Hinsicht Tacheles zu reden, wenn der Gesetzgeber nicht reagiert. Das ist einer der wenigen Punkte, die das ansonsten mE eher minderwertige US-amerikanische Strafverfahrensrecht dem deutschen voraus hat. Nur umfassende Beweisverwertungsverbote bieten eine hinreichende Abschreckung für Ermittlungsbeamte, nicht regelmäßig die gesetzlichen grenzen im Rahmen ihrer Ermittlungen zu überschreiten. Der nächste wichtige Punkt wäre eine zweite Tatsacheninstanz für so schwerwiegende Delikte wie Mord und Totschlag. Ein Ladendieb hat die Chance auf Berufung und der verurteilte Mörder nicht? Dieser eklatante Missstand wird seit Jahrzehnten angeprangert, aber es hat sich nichts getan. Angeblich mangelt es an Geld. Geldmangel darf aber kein Argument sein, wenn es um die ultima ratio des Rechtsstaates geht, wenn es angesichts der Schwere der Delikte um das Leben der Angeklagten geht. Ferner müsste – auch im Hinblick auf das Revisionsverfahren – die erstinstanzliche Verhandlung in Bild und Ton aufgezeichnet und Wortprotokolle angefertigt werden. Nur so kann eine Revisionsinstanz ungefiltert über die Rechtmäßigkeit des Hauptverfahrens urteilen. In unserer heutigen Zeit ist das völlig unproblematisch machbar. Auch sollten Richter und Staatsanwälte sehr viel unmittelbarer für ihre Verfehlungen zur Rechenschaft gezogen werden. Die unnötig einschränkende Auslegung des § 339 StGB wird schon lange in der Literatur kritisiert. Aber wie es in der Ärzteschaft schwerfällt, Ärzte zu finden, die als Sachverständige gegen ihre Kollegen aussagen, fällt es schwer, Richter zu finden, die bereit wären einen anderen Richter zu verurteilen. Und schließlich bräuchte man auch eine Haftentschädigung, die tatsächlich für eine unschuldig erlittene Haft entschädigt, und nicht etwa das Almosen, das der deutsche Staat heute zu bezahlen bereit ist. Natürlich ergibt das nur Sinn, wenn man die anderen Reformen bereits vollzogen hat. Sonst hätte das System noch einen Grund, seine Ergebnisse nicht kritisch zu überprüfen.
Einige systemische Probleme wie das Vorurteil des Richters, das mit der deutschen Form des Inquisitionsprozesses zwangsläufig einhergeht, lassen sich nicht ohne weiteres beheben. Hier hilft nur, die angehenden Richter bereits im Referendariat für die Problematik zu sensibilisieren.
Aber selbst wenn man all diese Reformen durchsetzen würde, wird das System nie fehlerfrei arbeiten. Richter sind Menschen und als solche machen sie Fehler. Richter werden nicht zwangsläufig nach ihrer Befähigung eingestellt. Im aktuellen System sowieso nicht, weil hier die Noten im Staatsexamen zählen. Die sagen aber rein gar nichts darüber aus, ob jemand zum Richter taugt oder nicht. Die Fähigkeit ein gutes Staatsexamen zu schreiben hat mit dem Richterberuf nur teilweise etwas zu tun. Wesentliche Fähigkeiten werden schon gar nicht in der Juristenausbildung vermittelt (s.o.) und damit auch nicht abgeprüft. Aber selbst wenn man mal eine entsprechende Reform unterstellen würde, wird es immer Einstellungsentscheidungen geben, die mehr mit Beziehungen, persönlichem Eindruck und anderen berufsfremden Dingen zu tun haben. Und da ein Richter auch nur noch schwer von seinem Posten zu entfernen ist, gibt es kaum etwas, was dieser Richter zu befürchten hat, wenn er schlechte Arbeit leistet. Das gleiche gilt für Staatsanwälte.
Angesichts dieser eigentlich recht offensichtlichen Punkte frage ich mich immer wieder, wie es sein kann, dass der deutschen Justiz dieses unumstößliche Vertrauen entgegengebracht wird, wie es auch einige hier im Thema tun. Da wird von Einzelfällen gesprochen – vermutlich, weil es eben nur Einzelfälle sind, die in den Medien groß rauskommen. Dass die Dunkelziffer zwangsläufig viel höher sein muss, gerade bei so etwas Schwierigem wie der Wahrheitsfindung im Strafprozess mit ihren hinlänglich bekannten unzähligen Fehlerquellen und den mangelhaften Kontrollmöglichkeiten dieser Entscheidungen, das finde ich überraschend. Selbstverständlich kann ich auch jene nicht verstehen, die überhaupt kein Vertrauen mehr in die deutsche Justiz haben und von einem Bananenstaat sprechen, das ginge sicherlich zu weit. Aber ich kann – auch aus langjähriger persönlicher Erfahrung – sagen, dass die Einzelfallqualität von Justizirrtümern ein Mythos ist. Natürlich muss man dazu nicht gleich jedem StA und Richter Rechtsbeugung vorwerfen. Natürlich muss man nicht auch gleich hinter jedem Ermittlungsfehler eine große Verschwörung vermuten. Aber dass hier regelmäßig Fehler gemacht werden und auch im Fall Peggy gemacht wurden, sollte meine ich doch, deutlich sein.
Um das noch etwas klarer zu skizzieren: Da verschwindet ein kleines Mädchen spurlos (das soll ein allgemeines Beispiel sein, ich rede explizit nicht von Peggy). Die Polizei wird eingeschaltet und die Ermittler fragen sich: Was können wir tun? Man versucht den Tag des Mädchens zu rekonstruieren und hofft auf Zeugenaussagen, die weiterführen. Beides führt aber nicht zum gewünschten Ergebnis. Je länger das Mädchen verschwunden bleibt, um so wahrscheinlicher erscheint ein Tötungsdelikt. Und der Druck der Öffentlichkeit auf die Ermittler wächst. Die Öffentlichkeit nämlich möchte in Sicherheit leben. Sie möchte, dass ihre Kinder in Sicherheit leben. Ihre Reaktionen werden von einer Emotion bestimmt: Angst. Und diese Angst löst dann Unmut aus, wenn die Polizei – weil der Täter noch nicht gefasst wurde – nach Ansicht der Bevölkerung nicht in der Lage ist, sie zu schützen. Das ist natürlich irrational und schlicht falsch. Die Ermittler sind eben auf die Spuren angewiesen, die der Täter zurücklässt. Auf Augenzeugen. Und wenn es die nicht gibt, dann kann die Polizei auch nicht viel machen. Wenn da aber jetzt dieser Druck da ist, möchte man auch als Ermittler schließlich zu einem Ergebnis kommen. Schließlich kommt es zum Prozess und als Richter ist man hier eben bereits dem Vorurteil verhaftet, dass StA und Ermittler den Fall ja schon umfassend geprüft haben und der Angeklagte sicherlich nicht grundlos auf der Anklagebank sitzt. So führt dann eins zum anderen. Und die Öffentlichkeit ist zufrieden, dass ein Täter nun gefasst wurde. Und das gleich auf zweierlei Weise: Erstens, weil man sich jetzt (mglw. auch völlig unberechtigt) sicher fühlt. Zweitens, weil ein Täter gefasst und hinter Gitter gebracht wurde. Damit wird der primitive Vergeltungsinstinkt befriedigt, der noch den meisten Menschen innewohnt. Dass wir uns gerade in der Hinsicht weiter entwickelt und längst erkannt haben, dass die primäre Funktion des Strafrechts Resozialisierung/Rehabilitation und Spezialprävention zu sein hat, ist leider wenig oder gar nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert. Und am Ende steht ein möglicherweise falsches Urteil, was schlecht ist für alle Betroffenen. Weil der wahre Täter frei herumläuft. Weil das Leben des unschuldig Verurteilten und ggf. auch seiner Mitmenschen zerstört wurde. Und weil das Rechtssystem dadurch Schaden nimmt. Es verliert an Glaubwürdigkeit und Akzeptanz.
Ein wichtiger Hinweis zum Thema Freispruch. Den Freispruch aus Mangel an Beweisen gibt es nicht mehr. Aus sehr guten Gründen hat man diese völlig verfehlte Unterscheidung schon vor langer Zeit abgeschafft. Man wird freigesprochen. Punkt. Der Freispruch kann aus tatsächlichen oder aus rechtlichen Gründen erfolgen. Erfolgt er aus tatsächlichen Gründen, dann deshalb, weil dem Angeklagten die Tat nicht nachgewiesen werden konnte. Punkt. Damit gilt der Freigesprochene als unschuldig. Alles andere ist der widerwärtige Versuch, ein Strafrechtsurteil zu relativieren, weil man mit dem Freispruch nicht einverstanden ist.
Und nun noch ein paar Richtigstellungen zu haarsträubenden Äußerungen, die ich so leider nicht stehen lassen kann:
@Blondi23Wenn mich z.B. jemand wegen Mietschulden verklagt und ein Urteil gesprochen wird, durch das ich freigesprochen werde, aber dieses Urteil nicht gerechtfertigt ist, dann bin ich dennoch schuldig.
Im Falle eines zivilrechtlichen Urteils wirst Du nicht freigesprochen, sondern die Klage abgewiesen. Schuld ist auch eine im Zivilrecht häufig wenig brauchbare Kategorie. Ob Du nun schuldhaft oder nicht schuldhaft in Verzug mit der Miete geraten bist, ist für den Anspruch auf Zahlung der Miete völlig unerheblich. Dieser Anspruch ergibt sich unmittelbar als Hauptpflicht aus dem Mietvertrag. Relevant wird das nur für den zusätzlichen Anspruch auf Verzugszinsen, weil der dafür notwendige Verzug Vertretenmüssen voraussetzt.
Definiere mir mal deinen Begriff von Strafe. Wenn ich verurteilt werde, Mietschulden zurückzuzahlen, dann ist das in meinen Augen die Strafe für das Hinterziehen des Mietzins.
Und den Mietzins zu hinterziehen ist keine strafbare Handlung?
Oh Mann..... . Da fehlen einem doch manchmal die Worte. Was meinst du denn, weshalb solche Sachen vor Gericht verhandelt werden? Weil jemand einer Person Schaden zugefügt hat, was geahndet werden muss.
Nein, den Mietzins zu „hinterziehen“ ist keine per se strafbare Handlung. Welche Straftat soll das denn sein? Mir fällt wenn überhaupt nur Betrug ein. Dazu müsste aber von vornherein der Vorsatz bestanden haben, den Mietzins nicht zu entrichten. Das ist selten der Fall. In der Regel hat der Mieter entweder kein Geld, um (noch) zu bezahlen oder er verweigert die Zahlung, weil er zB glaubt, dazu wg. einer Mietminderung im Recht zu sein. Beides ist nicht strafbar.
Du verstößt damit gegen den Mietvertrag, begehst somit Vertragsbruch. Muss ich das wirklich erklären? Vor allem, da es OT ist. Es gibt sicherlich kompetente Stellen, an die du dich wenden könntest, um dich mal über Vertragsbrüche bei Mietverhältnissen zu informieren.
"Vertragsbruch“ ist kein juristisch brauchbarer Begriff. Wenn man den Mietzins nicht bezahlt (und nicht zB wg. begründeter Mietminderung dazu berechtigt ist), dann ist das Nichterfüllung des Vertrages. Verklagt wird man dann auf Vertragserfüllung. „Geahndet“ wird da auch nichts. Verzugszinsen – soweit sie statthaft sind – stellen lediglich eine Form eines pauschalisierten Schadensersatzes dar für eben entgangene Zinsen bzw. Verwendungsmöglichkeiten, die man gehabt hätte, hätte das Geld pünktlich zur Verfügung gestanden. Die Zahlung des Mietzinses ist keine Strafe, sondern nur die Erfüllung einer Verpflichtung, die man freiwillig zuvor eingegangen war, als man den Mietvertrag schloss.
Du prangerst hier die Justiz an, scheinst aber selber kein fundiertes Wissen zu haben.
Ich muss ehrlich gestehen, dass mE
@JosefK1914 für einen Laien fundierteres juristisches Wissen in dieser Diskussion bewiesen hat als Du.
Ganz generell nochmal zum Zivilrecht: Schadensersatz ist keine Strafe, sondern basiert auf dem Prinzip, dass wer einem anderen einen Schaden zufügt diesen zu ersetzen hat. Schadensersatz setzt in der Regel voraus, dass man für den Schaden kausal verantwortlich ist und diesen auch zu vertreten hat. Darüber hinaus kennt das Zivilrecht aber auch eine Vielzahl von Ansprüchen, die nichts mit Schadensersatz zu tun haben und im Übrigen auch keine „Schuld“ voraussetzen. Dazu gehören zB alle Ansprüche aus vertraglichen Hauptpflichten, Bereicherungsansprüche, der Herausgabeanspruch des Eigentümers gegen den nicht berechtigten Besitzer, Unterhaltsansprüche oder etwa der Herausgabeanspruch aus einem Vermächtnis.
Beste Grüße in die Runde,
G.