Peggy Knobloch
03.01.2014 um 21:11
MÜNCHBERG/LICHTENBERG
Der Fall Peggy lässt Lichtenberg nicht los
Das Verfahren um das seit 2001 vermisste Mädchen wird neu aufgerollt – Ein Besuch in der oberfränkischen Stadt
Ulvi K. hat Postkarten geschrieben. In der krakeligen Schrift eines Grundschülers bedankt sich der wegen Mordes an der damals neunjährigen Peggy verurteilte Mann bei denen, die immer an seine Unschuld glauben. Ulvi K. wünscht ihnen frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Inzwischen hat Gudrun Rödel die weißen Umschläge, in denen die Karten stecken und auf denen nur ein Vorname steht, in ihrem Wohnzimmer in Münchberg liegen. Ulvi, heute 36 Jahre alt, hat sie ihr mitgegeben, als sie ihn in der Psychiatrischen Klinik besuchte. „Die muss ich noch adressieren und an die jeweiligen Leute schicken“, erklärt die 65-jährige Sprecherin des „Unterstützerkreises Gerechtigkeit für Ulvi K.“.
Gudrun Rödel ist eine zierliche Frau. Die Initiative „Gerechtigkeit für Ulvi K.“ war 2004 ins Leben gerufen worden, weil es Menschen gab, die von Anfang an daran zweifelten, dass der geistig behinderte Mann aus Lichtenberg Peggy 2001 vergewaltigt und getötet haben soll. Der harte Kern der Unterstützer besteht aus rund 20 Leuten. Deutschlandweit gibt es zahlreiche Sympathisanten. „Für uns stellt sich immer wieder die Frage, warum hier unbedingt jemand verurteilt werden musste“, sagt Rödel und zwirbelt die roten Plastikbügel ihrer Brille zwischen den Fingern.
Wiederaufnahmeverfahren
Inzwischen sind die Mitglieder der Initiative mit ihren Zweifeln nicht mehr allein. Der Fall Peggy wird im April vom Landgericht Bayreuth neu aufgenommen. Rödel, die auch Ulvis Vormund ist, wünscht sich nicht nur, dass ihr Schützling, der für sie wie ein Sohn geworden sei, freigesprochen wird. Sie will, dass die Mutter von Peggy endlich redet, will wissen, was damals passiert ist. Diese Frage beschäftigt auch viele Bürger in Lichtenberg, der kleinen oberfränkischen Stadt an der Grenze zu Thüringen.
Es ist ein trüber Tag nach dem Weihnachtsfest. Graue Wolken türmen sich am Firmament und Lichtenberg scheint wie ausgestorben. Die gepflasterte Straße am Marktplatz ist von bunt gestrichenen Gebäuden gesäumt. In einem dieser Häuser, in der Nähe des Rathauses, hat Peggy mit ihrer Mutter gewohnt. Von außen wirkt das Gebäude heruntergekommen, schmutzig und unbelebt. Erst bei genauem Hinsehen entdeckt man die verblassten Fensterbilder im ersten Stock, die einen Hinweis auf mögliche Bewohner geben.
In der gleichen Straße wartet eine Frau im roten Mantel auf ihren Mann. „Für den Ort ist die Situation unbefriedigend, weil halt was im Raum steht“, sagt sie. Ihr Mann ist inzwischen mit dem Auto vorgefahren. Es sei schon viel geredet worden. Jetzt müsse man abwarten, was das Wiederaufnahmeverfahren bringe, sagt die Frau noch, dann steigt sie in den Wagen. Im Schritttempo zuckelt das Auto davon. Es herrscht wieder Stille – und Leere. Die erklärt sich, als ein junger Mann den Kopf aus dem Fenster steckt und das Gespräch sucht. Er hat lange Haare und einen dunklen Bart. 80 Prozent der Häuser in der Straße stünden leer, erklärt er und macht deutlich, dass ihm das Aussterben seines Heimatortes mehr beschäftigt, als die Wiederaufnahme des Falles Peggy: „Das ist für die Einheimischen kein Thema mehr. Nur für die Anderen.“
Nebenan, im Restaurant Harmonie herrscht um kurz vor 14 Uhr rege Betriebsamkeit. Es riecht nach Braten und frisch gepellten Kartoffeln, Geschirr klappert und Besteck kratzt über sich langsam leerende Teller. Das Personal gibt sich verhalten. „Ich finde es auf jeden Fall gut, dass der Fall noch einmal aufgerollt wird“, sagt eine Frau. Mehr will sie sich nicht entlocken lassen. Aber vielleicht, so schlägt sie vor, lasse sich unten im Café am Marktbrunnen mehr erfahren.
Viele offene Fragen
Und tatsächlich reden dort die Gäste über die verschwundene Peggy. An einem lindgrünen Tisch sitzt eine Mutter mit ihren beiden erwachsenen Töchtern. Der mauvefarbene Teppichboden und die beigen Gardinen sorgen für Wohnzimmeratmosphäre. Engel- und Elfenfiguren sitzen auf Regalen und hängen an den Wänden. „Für mich war der Ulvi schon immer unschuldig. Der ist körperlich und geistig gar nicht in der Lage eine solche Tat zu begehen“, sagt eine der Töchter, die inzwischen in der Nähe von Nürnberg lebt. Der Fall habe Schande über ihre Geburtsstadt gebracht. „Wir wurden in den Medien schlecht gemacht und als Kinderschänder hingestellt“, klagt sie.
„Die Peggy ist bestimmt ins Ausland verschleppt worden“, wirft ihre Schwester ein und dreht ihr Glas in den Händen. Die Mutter, die um die 80 ist und noch im Ort wohnt, versucht sie mit leiser Stimme zu bremsen: „Sagt nicht so viel, man weiß nicht, wie alles war.“ Die Tochter aber beharrt darauf, dass der ganze Fall mysteriös sei. Vielen Spuren sei nicht nachgegangen, manche Zeugenaussage nicht berücksichtigt worden.
Auch Gudrun Rödel findet es nicht normal, dass aus ihrer Sicht viele Spuren vernachlässigt worden sind. Sie beschäftigt sich seit 2005 intensiv mit den Fakten, hat unzählige Theorien und Vermutungen. Vor allem ist sie sich sicher, dass Peggy noch lebt. Dass sie nicht umgebracht, sondern verschleppt worden ist.
Die Ungereimtheiten lassen sie und ihren Mann manchmal nicht schlafen. Stundenlang reden sie darüber, was passiert sein könnte. Einige ihrer Falten seien eindeutig dem Fall geschuldet, sagt sie. Dennoch bereut sie ihr Engagement nicht: „Ich habe tolle Leute kennengelernt.“
Rödels Energie geht so weit, dass sie selbst nach einem möglichen Freispruch Ulvis weiterkämpfen will. Dann nicht mehr für ihn, sondern für andere, die Opfer der Justiz geworden sind. So steht sie schon im Kontakt zum Anwalt von Gustl Mollath, der jahrelang in der Psychiatrie saß und wie Ulvi einem Wiederaufnahmeverfahren entgegen sieht. Ihr größter Stolz ist eine E-Mail von Mollaths Anwalt, in der er den Unterstützerkreis für seine Arbeit lobt.
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