Wozzeck schrieb:Dieser Zeitpunkt, zu dem ‚das Spiel‘ ausgereizt ist, lässt sich meines Erachtens nicht objektiv bestimmen und daher gab es auch weder für den Täter, noch für die Angehörigen selbst, einen stichhaltigen Hinweis darauf, ab wann dieser wiederholten Ankündigung (überhaupt) kein Glauben mehr zu schenken sei.
Das stimmt, aber ein solches "Spiel" intensiviert die Qual. Es bedeutet ein Hin- und Hergerissensein zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Nach meiner Ansicht werden (und würden, wenn es mit diesen Anrufen noch einige Tage weiter gegangen wäre) weder FL noch ihre Angehörigen die Hoffnung aufgegeben haben - die Alternative war zu grauenhaft.
Aber gerade weil sie an der Hoffnung festhalten mussten, muss dieses tägliche Schwinden an Gründen für diese Hoffnung grausam gewesen sein.
Wozzeck schrieb:Eine zweite mögliche Erklärung für die fortgesetzten Anrufe könnte man auch darin erkennen, dass die (ursprünglich) gewählte Formulierung gerade diese Form der Fortsetzungen ‚logisch‘ notwendig machte: Man kam schon nachvollziehen, dass die Ankündigung, „ich komme heute“, bei Nichteinhaltung, ihre Wiederholung am Folgetag nachsichzieht, oder?
Das stimmt. Nach meiner Meinung hätte der Täter zwar FL sagen lassen können, es sei ihr noch etwas dazwischen gekommen, sie brauche doch noch ein paar Tage, aber Du hast völlig recht: Mit der ersten Ankündigung, noch "heute" nach Hause zu kommen, hat der Täter sich unter einen großen Zugzwang gesetzt. Aber: warum?
Wozzeck schrieb:Der dritte Grund, weshalb man die Fortsetzung der Ankündigung über Donnerstag bzw. das Wochenende hinaus als ‚rational’ verstehen kann, ist m.E der, dass es durchaus sein kann, dass diese Ankündigung vom Täter selbst oder aber von F tatsächlich geglaubt wurde.
Es spricht einiges dafür, dass FL diese Ankündigung geglaubt hat. (Z. B. klang FL am Freitag, als sie zum ersten Mal ihre Rückkehr "heute" avisierte, nach Aussage ihres Bruders "normal".)
Die entscheidende Frage ist, ob der Täter diese Ankündigung ernst meinte.
Nach meiner Meinung spricht deutlich mehr für eine Verneinung:
Nach meiner Ansicht spricht alles für eine Entführung. (Auf die Ausführung der Gründe verzichte ich, weil das hier schon oft und in aller Ausführlichkeit dargelegt wurde.)
Wenn man sich also die Situation des Täters an jenem Freitag vergegenwärtigt, als die erste Ankündigung, "heute" nach Hause zu kommen, stattfand: Er hatte sich mindestens wegen Freiheitsberaubung strafbar gemacht. Selbst wenn er immer eine Maske getragen hätte, hätte er doch nicht irgendwelche Wahrnehmungen ausschließen, mit denen FL zur Aufklärung des Verbrechens hätte beitragen können.
Aber eine Maske schließe ich mit großer Wahrscheinlichkeit aus, da unter solchen Umständen eine unauffällige Entführung auf offener Straße mitten in PB nur sehr schwer vorstellbar ist. Hätte FL sein Gesicht sehen können, wäre ihm mit ihrer Freilassung eine mehrjährige Haftstrafe ziemlich sicher gewesen.
Wozzeck schrieb:Zu diesem Zeitpunkt hätte, für den Täter schlimmstenfalls, Aussage gegen Aussage gestanden - zumal F ja selbst, in während des fraglichen Zeitraums in zunehmender Zahl, erklärte, dass sie sich nicht in einer Zwangslage befände.
Das sehe ich entschieden anders. FLs Aussage wäre absolut glaubwürdig gewesen: durch die gesamten Umstände ihre spurlosen Verschwindens (und sie hätte vielleicht auch nähere Angaben zu ihrem Festhalteort machen können), aber auch durch ihr Gespräch am Donnerstag (wenn wir uns auf den Zeitraum bis zum Freitag beschränken wollen): das sehr kurze Gespräch, das keinen Dialog zuließ, Chris' Anrede mit Christos etc. Ihre Versicherung am Telefon, es ginge ihr gut, wäre unter solchen Voraussetzungen völlig wertlos gewesen und hätte nur dem entsprochen, was von einem Entführungsopfer zu erwarten war, das ja eben nicht frei sprechen konnte.
Wenn der Entführer nicht im Gefängnis landen wollte (und diese Absicht liegt, glaube ich, angesichts seiner sorgfältigen Spurenvermeidung nahe), kam eine Freilassung nach meiner Einschätzung kaum in Frage.
Und außerdem: Warum wurde ihre Rückkehr innerhalb weniger Stunden überhaupt telefonisch angekündigt?
Einige User haben hier auf FLs fehlenden Wohnungstürschlüssel verwiesen. Aber von ihm war nie die Rede. Hätte er irgendeine Rolle gespielt, hätte FL doch dem Satz "Ich komme heute nach Hause, auch nicht zu spät." eher noch ein "sorgt doch bitte dafür, dass mir jemand die Tür aufmachen kann" hinzugefügt.
Zudem: Wie wahrscheinlich wäre es gewesen, dass der Täter sie zu ihrer Wohnung fährt - erst recht nach dieser Ankündigung, die es nahelegte, voller Ungeduld am Fenster auf sie zu warten?
Wenn der Täter sie irgendwo abgesetzt hätte, wäre doch eher zu vermuten gewesen, dass FL bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit (Kneipe, Bäckerei etc.) Chris, ihre Eltern und wen auch immer angerufen hätte und sehr schnell abgeholt worden wäre. Ich glaube, die Sorge um den Hausschlüssel wäre für den Täter wie für FL im Fall einer Freilassung komplett vernachlässigenswert gewesen.
Warum also diese telefonische Ankündigung, "heute" zurückzukehren?
Das erste mal wurde sie am Freitag kurz nach 23 h gemacht und am nächsten Tag um kurz nach 14 h wiederholt, dann noch einmal am übernächsten Tag gegen 22:28 h.
Wenn der erste Plan gescheitert wäre, warum legte sich der Täter wieder auf einen Termin innerhalb weniger Stunden fest, und das Ganze dann noch einmal am Sonntag?
Und ich glaube, bei einer Einschätzung der Bereitschaft des Täters zur Freilassung sollte man auch nicht unberücksichtigt lassen, dass es dazu - trotz dreimaliger Ankündigung - nie kam und FL wenige Tage später starb, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit durch den Täter verursacht.
Wenn aber keine Freilassung FLs beabsichtigt war: Welchen Sinn hatten dann diese Ankündigungen? Jenseits aller Deutungsmöglichkeiten kann man, glaube ich, konstatieren, dass sie für FL (und ihre Angehörigen) einen sehr aufwühlenden Wechsel von Hoffnung und Enttäuschung bedeutet haben müssen.