birkensee schrieb:Zu dem Zeitpunkt also, zu dem die Polizei eine Entführung nicht mehr in Erwägung zog, veränderte der Täter - jedenfalls nach meiner Auffassung - seine Strategie und die Anrufe waren nicht mehr überzeugend (d.h. konsequent) darauf ausgerichtet, die Angehörigen zu beruhigen.
Diese Argumentation kann ich schon nachvollziehen, allerdings denke ich auch, man könnte die fortgesetzten Meldungen auch anders interpretieren: Schließlich zeichnete sich, wie Du ja auch geschrieben hast, für den Täter allmählich ab (und vermutlich nicht mit einem Schlag), dass seine Taktik aufging.
Darin sehe ich eine erste mögliche (und aus Tätersicht einigermaßen rationale) Erklärung dafür, wieso die Anrufe weitergingen. (- Zudem veränderte sich dieses Muster ja nach Sonntag. Der Täter könnte also sehr wohl noch auf den zum Erliegen gekommenen Fahndungsprozess reagiert haben, nur eben einen Tag später, als Du es nach den retrospektiven Angaben des Ermittlers erwarten würdest. -
birkensee schrieb:Der Täter konnte (ohne private Informationen) einfach nicht wissen, dass die Polizei keinen Handlungsbedarf mehr sah
Aus meiner Erinnerung teile ich übrigens
@Kangaroo Ansicht, dass dem Täter auch durch Beobachtung der Pressemitteilungen etc.
im Laufe der Woche klar geworden sein könnte, dass die Ermittlungen langsam zum Stillstand kamen.)
Eine zweite mögliche Erklärung für die fortgesetzten Anrufe könnte man auch darin erkennen, dass die (ursprünglich) gewählte Formulierung gerade diese Form der Fortsetzungen ‚logisch‘ notwendig machte: Man kam schon nachvollziehen, dass die Ankündigung, „ich komme heute“, bei Nichteinhaltung, ihre Wiederholung am Folgetag nachsichzieht, oder? Aus anderen alltäglichen Zusammenhängen kennt das wohl jeder, dass ein Ereignis immer wieder um einen gewissen Zeitraum verschoben wird. Dieses ‚Spiel‘ lässt sich idR schon eine Weile treiben, bis der Adressat endgültig die Geduld - oder wie hier vermutlich eher angemessen: den Glauben verliert, dass den Worten auch Taten folgen werden.
Dieser Zeitpunkt, zu dem ‚das Spiel‘ ausgereizt ist, lässt sich meines Erachtens nicht objektiv bestimmen und daher gab es auch weder für den Täter, noch für die Angehörigen selbst, einen stichhaltigen Hinweis darauf, ab wann dieser wiederholten Ankündigung (überhaupt) kein Glauben mehr zu schenken sei. Das liegt geradezu in der Natur dessen, was man z.B. Hinhaltetaktik nennen könnte.
Der dritte Grund, weshalb man die Fortsetzung der Ankündigung über Donnerstag bzw. das Wochenende hinaus als ‚rational’ verstehen kann, ist m.E der, dass es durchaus sein kann, dass diese Ankündigung vom Täter selbst oder aber von F tatsächlich geglaubt wurde.
Angenommen - und das erscheint mir nicht zu unwahrscheinlich - zwischen Täter und Opfer wurden (fortlaufend) Absprachen getroffen bzw. erzwungen (dies liegt angesichts des gesamten Vorgangs auf der Hand), dann ist es durchaus möglich, dass F den Zusagen des Täters soweit glaubte (bzw. ja auch unbedingt glauben wollte), dass es nachvollziehbar ist, dass sie die Gelegenheit/Erlaubnis zur Kontaktaufnahme, die sie dem Täter vielleicht abtrotzen musste, tatsächlich auch jedesmal, wenn ihr dies gelang, nutzte und dabei dann - anders als beim letzten Telefonat, das offensichtlich nach dieser hoffnungsvolleren Phase zu verorten ist, wiedergab, was der Täter ihr zugesichert hatte: ‚Ja, ich lasse Dich heute nach Hause!‘
In diesem Fall ist nicht zu erwarten, dass F diese Information nicht genau so wiedergegeben haben würde. Weil sie selbst es glauben wollte, weil es bedeutete, dass man sie zu Hause erwarten würde und - last but not least - auch wegen einer erhofften ‚performativen Wirkung‘ dieses Sprechakts: Gerade dann, wenn Hoffnung das bestimmende Motiv ist, glauben Menschen häufig, dass das Aussprechen eines gewünschten Zustands die Bedingungen dafür schafft oder wenigstens stabilisiert, dass das erhoffte und wiederholt Ausgesprochene auch tatsächlich eintritt: Es nicht mehr auszusprechen ist geradezu gleichbedeutend damit, die Hoffnung zu verlieren. Und so wirkt es dann (im Nachhinein für uns) ja auch: Dienstag, während des letzten Gesprächs, kündigt sich F nicht mehr an und wir verstehen das (häufig) so, dass sie zu diesem Zeitpunkt evtl. schon ahnte, dass sie ihrer damaligen Situation nicht mehr würde entkommen können. Stattdessen spricht F den Grund für diese Hoffnungslosigkeit direkt an: ,Ich bin ja schon seit einer Woche weg!‘ (sinngemäß).