@sigbert I. Das erste Strafverfahren wegen Blutschande aus dem Jahr 1915
Die Gütlerseheleute Andreas und Cäzilia Gruber von Hinterkaifeck haben am 11.3.1914 ihren landwirtschaftlichen Besitz dem einzigen gemeinsamen Kind, ihrer damals 27 Jahre alten Tochter Viktoria übertragen.
Die als Schönheit geltende Viktoria Gruber heiratete am 3.4.1914 auf dem Standesamt in Hohenwart den ein Jahr jüngeren Gütlerssohn Karl Gabriel aus dem Nachbarort Laag. Einen Tag später, am 4.4.1914 wurden beide von Pfarrer Michael Haas in der Waidhofener Kirche getraut.
Karl Gabriel musste aufgrund seines Geburtsjahrgangs 1886 unmittelbar nach Ausbruch des I. Weltkrieges einrücken und an der Westfront kämpfen, wo er am 12.12.1914 in der Nähe von Arras fiel.
Viktoria Gabriel wurde kurz nach der Hochzeit schwanger. Karl Gabriel erlebte die Geburt der Tochter am 9.1.1915 nicht mehr. In der Zeit nachdem Karl Gabriel in den Krieg gezogen war, bewirtschaftete die schwangere Viktoria ihr Anwesen zusammen mit ihren Eltern. Ihr damals 56 Jahre alter Vater galt als kräftig und gesund, so dass er sie tatkräftig unterstützen konnte.
Nach dem Tod ihres Mannes wurde Viktoria Gabriel nachgesagt, sie treibe Blutschande mit ihrem leiblichen Vater.
Die Beschuldigungen führten zu einem Ermittlungsverfahren und nach Anklageerhebung zu einem einem Strafprozess, der unter dem Aktenzeichen: Str.P.Reg. 105/15 beim Landgericht Neuburg anhängig war.
Die Strafakten sind nicht erhalten geblieben. Allerdings hat StA Richard Pielmaier in seinem Bericht vom 6.11.1926 den wesentlichen Akteninhalt zusammengefasst.
Staatsanwalt Pielmaier erwähnt in seinem Bericht keinen Anzeigeerstatter, somit ist davon auszugehen, dass das Ermittlungsverfahren nicht durch eine förmliche Anzeige in Gang gesetzt worden ist, was wiederum mit der kriegsbedingten Abwesenheit des Gröberner Ortsführers Schlittenbauer zu tun haben mag, der kraft seines Amtes als Vertreter des Bürgermeisters zur Beseitigung von gesetzwidrigen Zuständen in der Gemeinde und damit zum Erstatten von Anzeigen berufen gewesen wäre.
Vielmehr dürften Blutschandegerüchte den Gendarmen zu Ohren gekommen sein und die Ermittlungen ausgelöst haben.
Vom Neuburger Landgericht wurde im Urteil vom 28.5.1915 festgestellt, dass die geschlechtliche Beziehung zwischen Vater und Tochter nach Vollendung des 16. Lebensjahres der Tochter begann und vor der Heirat mit Karl Gabriel beendet war.
Die Feststellung zum Alter der Viktoria, nach Vollendung des 16. Lebensjahres wurde im Urteil getroffen, weil deswegen eine ansonsten denkbare Strafbarkeit Grubers wegen Kindesmissbrauchs mit der hohen Strafdrohung von bis zu zehn Jahren Zuchthaus nicht in Betracht kam. Gleichzeitig lag hinsichtlich der Blutschande kein Strafverschärfungsgrund vor, weil Geschlechtsverkehr mit einer bereits geschlechtsreifen Tochter ausgeübt wurde.
Die Feststellung, dass die Blutschande vor der Verehelichung stattfand, wurde im Urteil erwähnt, weil sich Blutschande innerhalb der Ehe strafverschärfend im Falle von Viktoria ausgewirkt hätte, da nicht mehr sicher gewesen wäre, dass Karl Gabriel und nicht Andreas Gruber Cäzilias Vater war.
Der Tatzeitraum wurde vom Gericht auf die Zeit von 1907 bis Sommer 1910 begrenzt.
Gemäß Urteil vom 28.5.1915 wurde Andreas Gruber lediglich zur Mindeststrafe von einem Jahr Zuchthaus verurteilt, obwohl Blutschande nach dem damals geltenden § 173 StGB mit einer Strafdrohung bis zu fünf Jahren Zuchthaus belegt war. Er wurde außerdem nicht zu Ehrverlust verurteilt, obwohl sich das angesichts einer Zuchthausstrafe für ein Sittlichkeitsverbrechen angeboten hätte.
Viktoria Gabriel wurde zwar nicht nur zu einer Mindeststrafe von einem Tag verurteilt, aber zu einer niedrigen Freiheitsstrafe von nur einem Monat, obwohl von Gesetzes wegen eine Bestrafung bis zu zwei Jahren möglich gewesen wäre.
Aufgrund des niedrigen Strafmaßes ist zwingend davon auszugehen, dass das Landgericht Neuburg die Schuld beider Angeklagten als gering eingestuft hat. Da Blutschande damals eines der wenigen Delikte war, wo das Gesetz keine Strafmilderung vorsah, war das Gericht hinsichtlich der Straffolgen an die Verhängung der ein jährigen Zuchthausstrafe und an die Verhängung einer Gefängnisstrafe gebunden.
Das niedrige Strafmaß impliziert ferner, dass das Gericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon ausgegangen ist, dass ein regelmäßiger Geschlechtsverkehr zwischen Vater und Tochter nicht nachweisbar war, so dass zu ihren Gunsten von einem Einzelfall oder wenigen Fällen ausgegangen werden musste.
Die vage Angabe, dass (irgendwann) im Zeitraum von mehr als zwei Jahren Geschlechtsverkehr zwischen Vater und Tochter stattgefunden hat, legt die Vermutung nahe, dass weder ein umfassendes Geständnis vorlag, noch Aussagen von direkten Zeugen, die die Angeklagten beim Geschlechtsverkehr ertappt hatten, denn solche Aussagen hätten eine genauere Eingrenzung der Einzeltaten und des Tatzeitpunkts möglich gemacht.
Die Verurteilung beruhte wahrscheinlich auf der Aussage eines mittelbaren Zeugen/Zeugin, der/die angegeben hat, dass Viktoria im Zeitraum 1907 bis Sommer 1910 ihm gelegentlich etwas über die geschlechtliche Beziehung zum Vater erzählt hat.
Aus den historischen Akten ist bekannt, dass eine Nachbarin, nämlich Viktoria Schlittenbauer durch Viktorias Erzählungen etwas über den Inzest gewusst haben will.
Nach Angaben von Lorenz Schlittenbauer hatte Viktoria seiner Frau gegenüber nach Vollendung des 16. Lebensjahres erwähnt, dass sie sich vor dem Vater kaum halten könne, weil der immer Geschlechtsverkehr wolle.
In den historischen Akten findet sich kein Hinweis darauf, dass ein weiterer Zeuge oder eine weitere Zeugin aus erster Hand etwas über den Inzest in den frühen Jahren nach Vollendung des 16. Lebensjahres und vor der Hochzeit wusste.
Andere Zeugen wie beispielsweise der Nachbar Michael Pöll gaben zwar an, dass allgemein bekannt gewesen sei, dass Vater und Tochter Gruber in geschlechtlicher Beziehung standen. Allerdings gab er nicht an woher er sein Wissen hatte und auf welchen Zeitraum sich sein Wissen bezog.
Erzählungen Viktorias über den Vater, der immer Geschlechtsverkehr wollte, hätte das Gericht als Geständnis werten können, dass in einem bestimmten Zeitraum vereinzelt Geschlechtsverkehr stattfand, weil Vater und Tochter sich nicht immer beherrschen konnten.
Auch das im Falle von Viktoria Gabriel verhängte geringe Strafmaß von einem Monat Gefängnisstrafe ließe sich mit solchen Tatumständen in Einklang bringen, denn Viktoria wäre dann kein bloßes „Opfer“ ihres Vaters gewesen, sondern sie hätte die Tat durch eine gewisse, ihr vorwerfbare Nachgiebigkeit gegenüber den Einwirkungen des Vaters ermöglicht. In ihrem Fall legte das Gericht ohnehin strenge Maßstäbe an. Sie wurde wegen Blutschande verurteilt, obwohl nach dem Gesetz Blutschande in ihrem Fall nur ein Vergehen war, das nach fünf Jahren verjährte.
Da der genaue Tatzeitpunkt der Blutschande nicht sicher feststellbar war, hätte das Gericht zu ihren Gunsten eigentlich von einer Verjährung ausgehen und das Strafverfahren gegen sie einstellen müssen, denn ein nachvollziehbarer Grund für die Überzeugung, dass Geschlechtsverkehr noch vor Ablauf der Verjährungsfrist im Sommer 1910 stattfand, ist nicht ersichtlich.
Das im Urteil angenommene Ende der geschlechtlichen Beziehung für den Sommer 1910 könnte aufgrund der Aussage eines Leumundszeugen beruhen, der erklärt hat, dass er eine geschlechtliche Beziehung der Angeklagten ausschließe.
Bei dem Zeugen könnte es sich um den Waidhofener Pfarrer Michael Haas handeln, der in Waidhofen ab Sommer 1910 als Pfarrer tätig war.Da er die Angeklagten erst ab Sommer 1910 seelsorgerisch betreut hat, konnte er sie mit einem Leumundszeugnis auch erst ab Sommer 1910 entlasten. Andreas Gruber und seine Familie galten als fromme Kirchgänger. Viktoria war Sängerin im Kirchenchor. Das Verhältnis zu Pfarrer Haas muss gut gewesen sein.
Außerdem ist naheliegend, dass zusätzlich Zeugen aus dem Umfeld des verstorbenen Karl Gabriel , in Frage kommen seine Eltern, seine Brüder und seine Freunde, durch ihre Aussagen die Angeklagten von dem Verdacht entlastet haben, dass Blutschande während der Ehe mit Karl Gabriel stattgefunden hat, indem sie ausgesagt haben, dass Karl Gabriel nie einen entsprechenden Verdacht geäußert hat und über Blutschande nichts gewusst hat.
Das Neuburger Landgericht war jedenfalls 1915 bei der Urteilsverkündung davon überzeugt, dass Andreas Gruber und seine Tochter Viktoria Gabriel in einem damals schon länger zurückliegenden Zeitraum von 1907 bis Sommer 1910 Geschlechtsverkehr hatten. Es musste damals im Falle einer Verurteilung nicht begründen, auf welche Beweise, d.h. auf welche Aussagen sich die Überzeugung von der Schuld stützt, denn eine Beweiswürdigung, die Abwägung von Zeugenaussagen, war damals im Urteil nicht vorgesehen.
Aus diesem Grunde konnten auch diejenigen, die später Akteneinsicht in die Strafakte genommen haben, wie beispielsweise Staatsanwalt Pielmaier und Kriminaloberinspektor Riedmayr von der Münchner Polizeidirektion nicht erkennen, auf welchen belastenden und auf welchen entlastenden Zeugenaussagen das Urteil beruhte, zumal Aussagen von Zeugen vor einem Landgericht auch nicht protokolliert wurden.
Viktoria Gabriel hat ihre einmonatige Freiheitsstrafe vom 10.1.11916 – 10.2.1916 im Landgerichtsgefängnis in Neuburg an der Donau verbüßt. Andreas Gruber war vom 3. Februar 1916 bis 3. Februar 1917 im Zuchthaus Straubing inhaftiert.
Der späte Haftantritt von Viktoria Gabriel, der auf den Tag nach dem ersten Geburtstag ihrer Tochter Cäzilia festgesetzt wurde, hängt mit der Berücksichtigung der Stillzeit bei weiblichen Häftlingen zusammen. Auch Andreas Gruber hat die Haft erst rund acht Monate nach der Urteilsverkündung angetreten.
Das ist ungewöhnlich, denn von Gesetzes wegen war unter bestimmten Voraussetzungen ein Haftaufschub von höchstens vier Monaten möglich. Daneben gab es aber auch einen gnadenweisen Strafaufschub, der gesetzlich nicht geregelt war. Die gnadenweise Strafaussetzung sollte den Zeitraum von sechs Monaten nicht überschreiten.
Für die Frist war der Zeitpunkt der Aussetzung maßgeblich. Andreas Gruber dürfte nach Rechtskraft des Urteils einen entsprechenden Antrag gestellt haben dem im August 1915 entsprochen worden ist, so dass der Haftantritt sechst Monate später im Februar 1916 erfolgen konnte.