@egaht Welchen Bezug hat Hirschs Lied denn zu irgendwelchen "Fakten"? Relativiert so ein Gleichnis Deine Sicht auf einen Mordfall?
@Comtesse @Hathora Comtesse schrieb am 22.03.2016:Also, auch wenn die Kindersterblichkeit damals noch höher war als heute, kann man doch nicht unterstellen, dass es den Menschen weniger ausmachte, ein Kind zu verlieren.
Hathora schrieb am 23.03.2016:Gestorbene Kinder wurden wohl schon zu allen Zeiten von den Eltern und Angehörigen tief betrauert, egal wie hoch die Kindersterblichkeit war.
Die Trauer damals war durchaus anders. Sowohl Erwachsenen gegenüber als auch erst recht gegenüber
Kleinkindern, und darum geht es ja hier.
Trauer komplett absprechen will ja Keiner den damaligen Eltern. Nur ging man damals sehr schnell wieder in den Alltag über. Ein so lähmender Trauerzustand wie heute wenn ein Kind stirbt - das kenne ich aus keinem einzigen Zeitzeugenbericht. Schon gar nicht bei Vätern. Dass ich in Bezug auf HK den Todeszeitpunkt der kleinen Anna Schlittenbauer als sehr spannend finde, geht aus meinen allerersten Beiträgen hier hervor: nur dass ich eben da nicht den Lorenz Schlittenbauer sondern seine damalige Frau als den trauernden Part einschätzte. Jetzt, wo wir mehr über sie und ihre Vorgeschichte wissen, schliesse ich allerdings für mich persönlich aus, dass sie zu einer Gewalttat aus Trauer fähig war. Sie hatte ja schon mehrere Kinder verloren. Von ihren insgesamt 9 Kindern überlebten nur 5 das Kleinkindalter. Soviel zu der damaligen Kindersterblichkeit. Und wie gesagt ist das nur mein persönlicher Eindruck.
Vielleicht nähert man sich den damaligen Sichtweisen, wenn man mal präzisiert: wir reden über eine bäuerliche Umgebung. Ohne umfassende ärztliche und hygienische Versorgung und mit einem traditionellen Familienbild. Meist ohne Verhütung und deshalb von hohen Kinderzahlen.
Damals gehörten Kinder zum Leben dazu. Da wurde nichts geplant und es wurde auch in der Tatsache, Kinder zu haben, kein eigener Lebenssinn oder eine persönliche Erfüllung gesehen. Ohne staatliche Fürsorge wurden Kinder gebraucht, um das eigene Überleben im Alter zu sichern.
Schwangerschaften waren weder Grund noch Ausrede, sich aus den eigenen Pflichten zurückzuziehen. Oft dauerte das Kindbett nur wenige Tage und das Kleinkind wurde versorgt aber kaum bespaßt. Väter (gerade auf dem Land) waren die allermeiste Zeit mit ihren Tätigkeiten auf dem Hof beschäftigt und hatten eigentlich keine Zeit, sich um Kleinkinder zu kümmern. Mir haben mehrere alte Leute erzählt, dass Kinder oft im Jahresrhythmus kamen und starb eines, so bekam tatsächlich das nächste denselben Namen. Das war sicher nicht immer und überall der Fall. Aber es bestätigt eben schön, dass die gesellschaftliche Sicht auf den Nachwuchs anders war als heute. Kinder existierten sozusagen "nebenher".
Heute ist das völlig anders. Man kann sich in der Regel schon ganz prinzipiell entscheiden, ob man überhaupt Kinder haben möchte und wenn ja, wann und wie viele. Frauen geniessen ihre Schwangerschaft, stellen bewußt ihr Leben darauf ein, bereiten die Ankunft des Kindes aufwändig vor. Diese "moderne" Sicht erlaubt natürlich auch, auf diese Kinder viel mehr Konzentration zu legen, sei es in finanziellen, zeitlichen oder emotionalen Dingen. Zudem ist das heutige Familienbild ein völlig anderes. Auch Väter können Kinder in ihren Lebensplan einbeziehen und möchten sich auch schon im Säuglingsalter in die Erziehung einbringen.
Und so wie sich die Sicht auf Kinder und ihre Bedeutung für die einzelnen Elternteile geändert hat hat sich eben auch die Trauer geändert, wenn ein Kind starb. Auch deshalb, weil sich der Umgang mit dem Tod generell völlig anders darstellt heute.
Wer mehr lesen will:
http://www.ipzf.de/Familien.htmlFamilie im Mittelalter
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Im Vergleich zur Kleinfamilie der Gegenwart war im Mittelalter das "Haus" der Bauern und Handwerker - mit diesen wollen wir uns zunächst beschäftigen, da nahezu die gesamte Bevölkerung diesen Gruppen zuzuordnen ist - eine Lebensgemeinschaft, die vielfach unverheiratete Verwandte, Gesinde, Lehrlinge und Gesellen umfasste. Seine Größe war abhängig von Faktoren wie zum Beispiel der Größe des Landbesitzes, dem Erbrecht, der Bodenbeschaffenheit oder der Konkurrenzsituation. Aufgrund der hohen Sterblichkeit und des späten Heiratsalters waren die meisten Haushalte recht klein und umfassten selten mehr als fünf Personen (große Altersunterschiede). Die Mitglieder dieser Lebensgemeinschaft wohnten zumeist in Häusern mit ein bis drei Räumen, von denen einer mit dem Vieh geteilt beziehungsweise als Arbeits- und Verkaufsstätte genutzt wurde. Somit lebten die verschiedenen Geschlechter und Altersstufen auf engstem Raum zusammen, schliefen zu mehreren in einem Bett und erlebten einander bei den intimsten Verrichtungen. Dementsprechend gab es keine Privatsphäre - aber auch nach außen hin mangelte es an einer klaren Abgrenzung: Das Haus stand immer für Nachbarn und Verwandte offen, die an allen größeren Ereignissen beteiligt waren und zusammen mit der Herrschaft, der Kirche und den Zünften eine starke soziale Kontrolle ausübten. Die Mitglieder der Hausgemeinschaft waren also in ein enges Beziehungsnetz eingebettet, in dem sie gefühlsmäßige Bindungen und sexuelle Kontakte fanden. Dementsprechend verbrachten sie Sonn- und Feiertage sowie ihre geringe Freizeit nicht daheim, sondern in der größeren Gemeinschaft des Dorfes oder des Stadtteils.
Im Gegensatz zur Familie von heute war das "Haus" des Mittelalters in erster Linie eine Produktionsstätte. Es diente der Existenzsicherung, der Erhaltung des Besitzes, der alltäglichen gegenseitigen Hilfe und der materiellen Versorgung der Alten und Kranken. Die gemeinsame Arbeit und Produktion als Zweck der Hausgemeinschaft prägten die zwischenmenschlichen Beziehungen; das Hausinteresse stand meist an erster Stelle. Somit war das "Haus" weniger eine sittliche Institution als eine Einrichtung zum Überleben. Dabei ist zu bedenken, dass im Mittelalter Ackerbau und Viehzucht noch unterentwickelt waren. Obwohl 70 bis 80% der Bevölkerung als zumeist abhängige Bauern lebten, reichten die von ihnen produzierten Lebensmittel gerade für den eigenen und den regionalen Bedarf. Meist befanden sie sich am Rande des Existenzminimums und litten immer wieder unter Hungersnöten, da aufgrund der geringen Marktverflechtung und der schlechten Transportmöglichkeiten nur selten Überschüsse aus anderen Regionen in das von einer Missernte, kriegerischen Auseinandersetzungen usw. betroffene Gebiet geschafft werden konnten. Auch in guten Zeiten konnte der eigene Bedarf nur dann gesichert werden, wenn alle Mitglieder des "Hauses", einschließlich der Kinder und alten Leute, an sechs Tagen in der Woche von Sonnenaufgang bis -untergang arbeiteten. Freizeit gab es nur an Sonn- und Feiertagen sowie in Arbeitspausen.
Somit waren die im "Haus" vorherrschenden zweckmäßigen Beziehungen für das Überleben unter der ständigen Bedrohung durch Krankheiten, Hungersnöte und Kriege wichtiger als gefühlsmäßige. Dementsprechend wurde eheliche Liebe vielfach als eine Form christlicher Nächstenliebe betrachtet, wurden außereheliche sexuelle Verhältnisse eher toleriert. Der "Familiensinn" war weniger stark ausgeprägt als in späteren Jahrhunderten, obwohl in manchen Zeugnissen aus der damaligen Zeit auch von engen emotionalen Banden zwischen Familienmitgliedern berichtet wird. In der Eltern-Kind-Beziehung spielten Gefühle eine geringere Rolle als heute - dabei ist jedoch zu bedenken, dass die meisten Kinder noch vor Erreichen des ersten Lebensjahres starben, so dass die Eltern zu ihrem Selbstschutz eine gewisse psychische Distanz wahren mussten. Die Tatsache, dass ein Säugling die ersten ein, zwei Lebensjahre mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überleben würde, mag auch erklären, weshalb die Eltern beim Tod eines ihrer Kinder weniger Trauer zeigten: Er war ein durchaus "normales" Ereignis. Zudem konnte damit gerechnet werden, dass bald ein anderes Kind an die Stelle des Gestorbenen treten würde, da Methoden der Empfängnisverhütung unbekannt waren. Der häufigere Tod von Kindern und Müttern (insbesondere im Kindsbett) prägte auch die Familienstrukturen: So wuchs ein Großteil der Kinder mit Halb- und Stiefgeschwistern auf, gab es große Altersunterschiede zwischen ihnen.
Kinder wurden in erster Linie als zukünftige Arbeitskräfte und als Garanten der Altersversorgung der Eltern gesehen. Ihr "Wert" richtete sich stark nach ihrem Nutzen für die Produktionsgemeinschaft. Dementsprechend war die Dauer der Kindheit auf das zarteste Kindesalter beschränkt, das heißt auf den Lebensabschnitt, in dem Kinder noch nicht ohne fremde Hilfe auskommen können. Zumeist wurde auf ihre Pflege und Erziehung aufgrund der hohen Arbeitsbelastung der Eltern und einem fehlenden Bewusstsein für Erziehung nur wenig Zeit verwendet. Säuglinge blieben oft längere Zeit unbeaufsichtigt, so dass von Fällen berichtet wird, wo sie von frei herumlaufenden Hausschweinen gefressen wurden. Sobald Kinder laufen und von den Händen Gebrauch machen konnten, wurden sie übergangslos zu den Erwachsenen gezählt, trugen dieselbe Kleidung und teilten ihre Arbeit. In der Regel wuchsen Kinder unmerklich in ihren späteren Aufgabenbereich hinein, indem sie von Eltern, Gesinde und Verwandten frühzeitig zu Helferdiensten herangezogen wurden. So erfolgten Erziehung und Ausbildung durch das Zusammenleben mit Erwachsenen. Oft wurden aber auch Kinder im Alter von circa zehn Jahren an Verwandte oder Lehrherren fortgegeben, deren Alltags- und Arbeitsleben sie teilten. Dabei wurden sie nicht nur in einem Beruf und in häuslichen Diensten ausgebildet - auch Knaben mussten zum Beispiel den Tischdienst verrichten -, sondern eigneten sich auch die für ein Überleben in der mittelalterlichen Gesellschaft notwendigen Kenntnisse, Sitten und Erfahrungen an. Blieben erwachsene und verheiratete Söhne bei den Eltern wohnen, kam es oft zu Spannungen mit den Vätern, welche die Leitung der Hausgemeinschaft nicht aus der Hand geben wollten.
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Familie im 19. Jahrhundert
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Bei Bauernfamilien, aber auch bei kleinen Handwerkern, hielten sich Strukturen des mittelalterlichen "Hauses" bis ins 20. Jahrhundert hinein. Große Veränderungen brachten zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Befreiung der Bauern von der Grundherrschaft und die Säkularisation - so war zum Beispiel in Kurbayern die Kirche zuvor Herrin über 56% des Gesamteigentums an Land und über die Hälfte aller grunduntertänigen Familien gewesen (Ohe 1985). Eine negative Folge der Bauernbefreiung war aber die starke Verschuldung vieler Höfe. Auch gab es große regionale Unterschiede im Lebensstandard und in der Wirtschaftsform entsprechend des Erbrechts. Während in Gegenden mit der Realteilung Hofgrößen entstanden, die einer Familie nicht mehr das Überleben ermöglichten, blieben in Regionen mit Anerbenrecht große Gehöfte erhalten. Während hier der Bauer mit seinen Söhnen und Knechten für Feldarbeit und Großvieh, die Bäuerin mit Töchtern und Mägden für Haus, Stall und Garten zuständig war, konnte auf kleinen Höfen eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung kaum realisiert werden.
Ein Großteil der (Groß-) Bauern lebte in Mehrgenerationenfamilien, die weiterhin eine Produktions- und Versorgungsgemeinschaft bildeten. Sie waren patriarchalisch strukturiert; die Kontrolle über den Hof und damit über die Existenzgrundlage gab dem Vater eine große Macht. Auch erwachsene Kinder blieben bis zur Hofübergabe von ihm abhängig und mussten häufig bis zu diesem Zeitpunkt mit dem Heiraten warten. Es ist offensichtlich, dass dieses vielfach zu großen Spannungen zwischen den Generationen führte. Mit der Hofübergabe wechselten die Eltern ins Altenteil, wobei in dem oft notariell abgefassten Übergabevertrag genauestens die Verpflichtungen der jüngeren Generation festgelegt wurden. Derartige Vereinbarungen lassen vermuten, dass in Bauernfamilien gefühlsmäßige Bindungen von geringerer Bedeutung waren als im Bürgertum. Nach der Übernahme des Hofes musste der erbende Bauer bei Anerbenrecht seine Geschwister auszahlen, was für ihn eine große finanzielle Verpflichtung bedeutete. Diese wurde teilweise durch die Mitgift seiner Frau abgedeckt - bei der Partnerwahl waren also weiterhin zweckrationale Kriterien wie Mitgift, Besitz und Arbeitstüchtigkeit wichtig. Jüngere unverheiratete Geschwister blieben jetzt jedoch seltener auf dem Hof wohnen, sondern suchten öfters Lohnarbeit in der Stadt. Viele wanderten auch nach Amerika oder Australien aus.
Säuglinge wurden ein bis zwei Jahre und länger gestillt und bis ins 20. Jahrhundert hinein gewickelt. Oft wurden schon Kleinkinder mit den Hirten auf die Weide geschickt; mit acht Jahren mussten Kinder bereits selbst Ziegen oder Schafe hüten. Vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Schulpflicht auf dem Land noch nicht durchgesetzt wurde, besuchten sie nur insoweit die Schule, wie die Arbeit dazu Zeit ließ. Dementsprechend konnten sie sich bloß eine geringe Schulbildung aneignen. So wurden Kinder wie im Mittelalter weiterhin in erster Linie als Arbeitskräfte betrachtet. Sie arbeiteten entweder auf dem Hof ihrer Eltern oder wurden - falls dieser zu klein war - als Gesinde, Tagelöhner o.Ä. auf andere Gehöfte gegeben, manchmal sogar als Hütejungen versteigert. Vielfach erhielten sie eingewisses Arbeitspensum zugeteilt, wobei streng darauf geachtet wurde, dass sie es ableisteten. Falls sie die Erwartungen der Eltern nicht erfüllten, mussten sie mit schweren Körperstrafen rechnen. Hatten aber die Kinder die ihnen aufgetragenen Aufgaben erledigt, so konnten sie ohne nennenswerte Kontrolle der Eltern auf dem Gehöft, im Wald oder auf den Wiesen herumtollen, basteln und spielen. Zumeist mussten sie ihre Spielsachen selbst herstellen, da von den Eltern für derartige Dinge kein Geld ausgegeben wurde. An Spiel und Freizeitgestaltung nahmen diese aufgrund von Zeitmangel nur selten teil, so dass die Erziehung auch von einer gewissen Vernachlässigung (neben Härte und Strenge) gekennzeichnet war. Die Kinder waren dabei, wenn Erwachsene Geschichten und Schwenke erzählten, sangen oder feierten. Sie teilten vollständig deren Leben, mussten zum Beispiel bei bestimmten Gesprächsthemen auch nicht den Raum verlassen. So erfolgte Erziehung indirekt durch Lernen am Vorbild und die Mitwirkung auf dem Hof. Dabei erreichten die Kinder eine erstaunliche Vielseitigkeit, da die bäuerliche Produktion in großen Teilen subsistenzwirtschaftlich erfolgte (wenig verfügbares Bargeld) und damit auf den Höfen höchst unterschiedliche Tätigkeiten ausgeführt wurden. Durch Arbeit und Spiel wuchsen die Kinder ebenso "unmerklich" in die Sozialstruktur des Dorfes hinein und eigneten sich die vorherrschenden Normen, Einstellungen und Leitbilder an.
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