Plädoyer von Fabien Rajon (Vertreter von Maëlys‘ Familie mütterlicherseits)
Nun spricht Fabien Rajon. Er vertritt mit Armel Juglard die Familie von Maëlys (Mutter, Schwester, Großeltern mütterlicherseits). Zu Beginn seiner Rede wollte er zunächst Colleen, der großen Schwester von Maëlys, gratulieren, die das Wort ergriffen hatte, um ihrem Leid Ausdruck zu verleihen und den Angeklagten herauszufordern. „Ich bin mir sicher, dass du aufblühen wirst, dass ein Junge, ein echter, dich an die Hand nehmen wird und du Kinder haben wirst. Ja, das Leben ist lebenswert. Colleen, dein Leben ist nicht vermasselt. Schau rein die Kabine, was das für ein mittelmäßiges Leben ist. Ein Leben, das Nordahl selbst durch seine Entscheidungen und nicht durch eine Geisteskrankheit zunichte gemacht hat. Nach diesem Prozess wird er die Mülltonnen der Geschichte sein."
„In diesem Schrank liegt eine Akte mit 23.000 Seiten. Die Verteidigung will diese Akte diskreditieren. Wir würden den Angeklagten drängen. Aber wer ist dieses ‚wir‘. Die Medien? Aber die durchgesickerten Informationen an die Presse berührten in erster Linie die Familie von Maëlys. Der Bruch des Unterkiefers von Maëlys, die Eltern erfuhren es aus dem Internet. Und am Tag der Entdeckung der Leiche wollte eine Meute Journalisten ihren Garten betreten. Aber die Presse hinderte die Untersuchung nicht daran, weiterzumachen. Auf wen zielt also dieses ‚wir‘ ab? Die Ermittlungen! 23.000 Seiten."
„Seit September 2017. Die Arbeit der Ermittlungsrichter ist vorbildlich. Der Amtsrichter ist ein unabhängiger Richter. Trotz meiner Bemühungen und denen der Staatsanwaltschaft sind die Richter uns wegen der Vergewaltigung von Maëlys nicht gefolgt, obwohl wir Hinweise hatten. Ihre Linie war geprägt von Klugheit. Es ist ein Beweis für die objektive Unparteilichkeit der Ermittlungsrichter. Bei einem Fall, der in den Medien übermäßig hochgespielt wurde, war eine beispielhafte Untersuchung erforderlich, und das war auch der Fall. Niemand hat jemals das Gesicht eines Ermittlungsrichters in der Presse gesehen.“
„Experten sagten uns, dass seine Halluzinationen eine Simulation waren, dass er die Fähigkeit hatte, sich mit seinen Opfern zu verbinden, er hat soziale Kompetenzen. Seine Freunde sagten, er sei nett. Experten sind sich einig über die Gefährlichkeit des Angeklagten und das Risiko eines Rückfalls. Grund zur Sorge: die Familie des Angeklagten. Gibt es einen stabilen Pol? Ich suchte ihn wie eine Oase in der Wüste. Ein Beispiel, das mir auffiel, war Sven, der sagte, sein Bruder sei ein guter Schüler! Er brach die Schule allerdings nach der neunten Klasse ab. Wo ist die Klarheit, der gesunde Menschenverstand dieser als pathologisch qualifizierten Familie? Was besorgniserregend ist, ist das Ausmaß der Opfergruppe, vom Soldaten bis zum 8-jährigen Mädchen, einschließlich seiner beiden Großcousinen.
Der Angeklagte konsultierte am 24. November 2021 mit einem illegal ins Gefängnis gelangten Handy kinderpornografische Seiten. Hat sich Nordahl wirklich verändert? Das war erst vor drei Monaten! Ich wundere mich über die Aufrichtigkeit des Angeklagten. Kennt Nordahl seine Verbrechen an? Er ist nicht in der Lage, sich zu reflektieren. Ein Beispiel: Die Ex-Freundin Anouchka. Er sagte ihr im März 2018: „Liebst du mich?“ Wie eine Bestellung. Anouchka, nach dem Wochenende von Maëlys' Mord, fragt sie ihn, was er getan hat. „Nichts Besonderes“, antwortet er. Die Perversität des Angeklagten, der in banalem Ton sagt, wenn Anouchka ihm an diesem Abend geantwortet hätte, hätte er Maëlys nicht getötet, und wieder unanständig, wenn er sagt, dass Maëlys darauf bestanden hat, in sein Auto einzusteigen."
Der Anwalt kehrt zu den Pseudo-Geständnissen vom Freitag, dem 11. Februar, zurück, geführt von seinem Anwalt. „Während er fünf Stunden lang das Gegenteil behauptet hatte, sagte er gestern wieder, er habe sie unfreiwillig enführt.“
Der Anwalt liest einen Brief von Arthur Noyers Eltern vor. „Sie sagen, er war ein guter Kerl, Sie sagen, es gab eine Auseinandersetzung zwischen Ihnen, Sie sagen, dass Sie sein Gesicht statt Maëlys gesehen haben. Nein, es gab keine Auseinandersetzung, Sie haben einen Mord begangen. Nach Arthurs Mord haben Sie Ihr normales Leben fortgesetzt. Hören Sie auf, Arthur zu benutzen, um Ihre Empathie vorzutäuschen. Sie sind böse und manipulativ, ein Lügner und Feigling. Mögen die Gesichter unserer toten Kinder Sie verfolgen! Wir lehnen Ihre Ausreden ab. Ein fauler Baum trägt keine guten Früchte."
„So heißt es im Prozess um Arthur Noyer: ‚Indem er die Leiche verschwinden ließ und jegliches Auffinden am Tatort verhinderte, entzog er den Ermittlern absichtlich die Todesursachen des Unteroffiziers.' Bei Maëlys ist das sexuelle Motiv für mich offensichtlich. Für mich ist sein Handy sein Komplize, die Verlängerung seines Gehirns. Er schaltet es in Flugzeugmodus. Er löscht nachträglich Dateien, Fotos. Es hat auch den Kontext von den sexuellen Übergriffen auf die Großcousinen. Er weiß, was vor und nach den Videos passiert ist. Er sagt uns, dass da nichts war, aber ich nehme ihm das nicht ab!
Das sexuelle Motiv wird auch in einer Telefonabhörung zwischen der Schwester und der Mutter des Angeklagten deutlich. Die Mutter sagt, dass ihr Sohn das Mädchen getötet hat, weil er sie vergewaltigt hat, und dass sie gekämpft hat. Ich habe diese Aufzeichnung gelesen. Sie ist objektiver Teil dieser Akte.
„Der Angeklagte hatte tatsächlich kinderpornografische Seiten konsultiert.
Auf seinem Handy befinden sich acht Fotos von nackten Kindern in ihrer Badewanne. Es gibt eines von ihm mit einem nackten Kind in einem Garten. Das wirft Fragen auf. Es ist ihr echtes Gesicht. Und da ist dieses kinderpornografische Foto, das er von der KYMS-Anwendung „Keep You Media Safe" mit einem Geheimcode in seinem SmartPhone versteckt hat. (...) Wir haben keinen wissenschaftlichen Beweis für die Vergewaltigung von Maëlys, dies aber nur wegen des Angeklagten, der den Körper sechs Monate lang in der Natur gelassen hat.
„Dieser Fall lag dem ehemaligen Staatsanwalt am Herzen. Was hat er Ihnen gesagt? Dass man sich durch nichts täuschen lassen darf, um das wahre Gesicht des Angeklagten eindeutig zu erkennen.
Wann soll Nordahl wieder in einen Nachtclub, eine Schule, ein College gehen?
Wir haben die Eltern von Maëlys und ihrer Schwester einem Gutachten unterzogen, um den Schaden, das Funktionsdefizit und die erlittene Gewalt zu beziffern. Das Funktionsdefizit wird mit 75% bewertet, normalerweise sind es 20%. Das Ausmaß des Leidens hielt an.
4/7 für eine Fraktur. 6/7 Tetraplegie oder schwere Verbrennungen. Für meine Klienten ist die Bewertung 6,5/7!“
Ich wollte Ihnen von Jennifers Leid erzählen. Ich möchte, dass Sie als Geschworene sich in ihre Lage versetzen. Sie möchten den Sommer und Ihren Urlaub in Portugal unter der Sonne verlängern. Sie haben beim Friseur Termine mit ihren beiden Prinzessinnen ausgemacht. Nach der Anfahrt kommen Sie bei der Hochzeit an. Die Liebe ist spürbar, überall, direkt, offensichtlich. Diese Momente des Teilens sind so kostbar. Sie sind glücklich, Mutter zu sein, zu haben, was Ihnen das Leben gibt. Maëlys wollte unbedingt die Schule wechseln, weil sie ein schwieriges Schuljahr hinter sich hat. Eine schöne Feier vor dem Schuljahresstart und der Rückkehr in den Alltag, zur Arbeit, ins Krankenhaus."
Sie hören das Lachen Ihrer kleinen Maëlys, ihre Energie gibt Ihnen so viel Kraft für den Alltag. Doch die Tochter schwebt in Lebensgefahr, ein dunkler, ungesunder Blick ist auf sie gerichtet, jemand Perverser. Ihre Tochter sitzt auf Ihrem Schoß, sie geht wieder spielen, Sie wissen es noch nicht, aber Sie werden sie nie wiedersehen. Es läuft Maëlys‘ Lieblingslied „Sapé comme jamais“. Maëlys ist nicht auf der Tanzfläche. Eine dumpfe Angst erfasst Ihren Körper. Wo ist Maëlys? Sie suchen Ihr Kind und diesen Kerl im blauen T-Shirt. Wo ist er? Sie spüren die Angst. Sie haben verstanden, dass es um Leben oder Tod geht. Aber wo ist Maëlys? Sie müssen die Polizei rufen. Sie geben der Polizei ein Foto Ihrer Tochter, das für die Hochzeit gekleidet ist, das Sie auf Ihrem Handy finden. In Ihnen ist diese abgrundtiefe Leere, die Sie erschreckt. Aber wo ist Maëlys? Der Vater kommt, aber nein, deine Tochter ist nicht bei ihm. Ihre Angst wird von Ihren Lieben geteilt, in wenigen Stunden wird sie von Millionen Franzosen geteilt.
„Ein Helikopter hebt zum Jura ab, um eine Bettdecke von Maëlys zu holen, damit ihr Geruch den Hunden hilft, sie zu lokalisieren. Und plötzlich erinnern Sie sich an diesen Blick, der Ihnen aufgefallen ist. Später wird dieser Mann angeklagt und eingesperrt. Ihre Intuition war richtig. Sie werden Zugang zu Überwachungskameras haben. Sie werden die Silhouette Ihrer Tochter im Auto dieses Mannes sehen. Aber die Suche wird nichts ergeben. Und er, in seinem Gefängnis, sagt nichts. Aber ein paar Worte seinerseits würden genügen damit der Albtraum endet. Sechs Monate Geiselnahme, wissentlich von ihm gewollt, sechs Monate Folter. Sein kleines Vergnügen besteht darin, Sie in Atem zu halten. Sechs Monate, in denen Sie Medikamente nehmen, Sie weinen, aber die Tränen fließen nicht mehr. In einem Albtraum sehen Sie Ihre Tochter, die Ihnen erzählt, dass sie vergewaltigt wurde. In einem anderen ist all das nie passiert und als Sie aufwachen, beginnt der Albtraum von neuem. Die Mutter von Arthur hatte denselben Albtraum. Er rief sie, sie solle kommen und ihn retten, er sagte ihr, ihm sei kalt. Dieselbe unerträgliche Trauer, dasselbe unergründliche Leiden."
Der Anwalt endet mit der Beerdigung des Kindes in seinem kleinen weißen Sarg. Er nimmt Maëlys' Schultagebuch, die Seiten sind leer. „Nordahl Lelandais, Sie haben nicht getötet, Sie haben das Kind dem Leben entrissen. Bringen Sie das in den Kopf.
Meine Damen und Herren, Maëlys Familie vertraut Ihnen. Urteilen Sie ohne Rache, und mit dem Verständnis, wer Nordahl Lelandais ist."
"Quelle:
https://www.francebleu.fr/infos/faits-divers-justice/direct-proces-lelandais-l-heure-des-plaidoiries-des-parties-civiles-1644947211Die Übersetzung des Originaltextes erfolgte durch mich zusammenfassend mit Auslassungen und unter Einbeziehung sprachlicher Kreativität und auf Grundlage meiner Interpretation
Ich habe im Laufe des Prozesses, aber auch schon vorher, wenn er mit der Presse sprach, immer wieder gedacht, was Fabien Rajon für ein unglaublich guter Rhetoriker ist. In seinem Plädoyer hat er das erneut gezeigt.
Die Tragweite des Leidens der Familie in dieser Form darzustellen, ist wirklich wichtig. Schlimmer als eine Querschnittslähmung! Fürchterlich ist das!
Das mit dem Telefongespräch zwischen Mutter und Tochter war mir neu. Ich hatte in dem Prozess nur die äußerst vulgären, pietät- und respektlosen Äußerungen der Mutter gehört, nicht aber dass sie der Tochter von der Vergewaltigung und der Tötung erzählt hat. Hat Nordahl ihr das erzählt? Hat er ihr erzählt, dass sich das Kind heftig gewehrt hat? Hat er ihr auch die Geschichte von den Dämonen erzählt, die Mutter Courage dann sofort geglaubt hat?
War das Telefonat vor oder nach ihrer Äußerung über ihr Hätschelkind, als sie ihn als "guten Jungen" bezeichnet hat, der keiner Fliege etwas zuleide tun könnte? War das vor oder nach dem Interview von RTL, für welches sie einen Bündel Geldscheine entgegennahm, und sich dabei auch noch fotografieren ließ? War das vor oder nach Svens Versuch, Spenden für seinen 'unschuldigen' Bruder zu sammeln?
Dass Sven Nordahl als guten Schüler bezeichnet hat, lässt ja schon fast auflachen? Ist da der Einäugige König unter den Blinden?