@DEFacTo@MaryPoppinset.al.
Ich komme erst jetzt dazu, auf die Anfrage im Thread zu antworten, ob ein Verteidiger Zeugen suchen und unabhängig bzw. aussergerichtlich befragen darf, u.a. auch wenn dies von der Anklage benannte Zeugen sind.
Das Thema ist relativ komplex, ich will kurz eine allgemeine Antwort geben und dann auf die dänische Besonderheit eingehen.
Zuerst einmal: Nach meiner Auffassung ist es ein unabdingbarer Teil des in den meisten Rechtstaaten verfassungsrechtlich grundierten Rechts auf Verteidigung, auch alle in Frage kommenden Zeugen befragen zu dürfen. Und dies nicht nur in der Hauptverhandlung, wo es wohl in allen Rechtsstaaten dieses Recht gibt, sondern auch vorher, während den Ermittlungen, während der Organisation einer Verteidigung.
Nicht in allen Staaten wird dies aber gleich gehandhabt. In der Jurisdiktion, in welcher ich als Strafverteidiger tätig bin ist es ein ganz klar verbrieftes Recht: der Angeklagte bzw. sein Verteidiger hat selbstverständlich das Recht, potentielle wie benannte Zeugen aufzusuchen, zu befragen oder auch deren Hintergrund auszuforschen - aber mit einer relativ gravierenden Einschränkung: der Zeuge hat nicht die Pflicht, aussergerichtlich zu antworten.
Praktisch gesagt: Wenn Theodor angeklagt ist, dem Ottokar den Schädel mit einem Masskrug eingeschlagen zu haben und die Staatsanwaltschaft sagt, Zenzi habe das alles gesehen, dann kann Advocatus, der Verteidiger des Theodor, oder auch Theodor selbst (sofern noch auf freiem Fuss) jederzeit zu Zenzis Haus gehen und klingeln und fragen, ob sie ein paar Fragen beantwortet. Wenn sie ja sagt, dann darf man hineingehen und sie befragen, über Gott und die Welt.
Zenzi darf ihm aber auch die Türe vor der Nase zuschlagen. Dann hat Advocatus bzw. Theodor Pech gehabt.
Und anschliessend kann Advocatus bei Frau Gmeinwisser klingeln, der Nachbarin der Zenzi, und diese alles über Zenzi fragen, was ihm einfällt. Wenn er dann von Frau Gmeinwisser hört, dass Zenzi eine Wichtigtuerin ist, die in Wirklichkeit gar nichts gesehen haben kann, da sie an jenem Tag ausgerechnet bei Frau Gmeinwisser zum Kaffee in deren guten Stube sass, während draussen der arme Ottokar einen über die Rübe bekam, kann Advocatus Frau Gmeinwisser als Zeugin vorladen und die Aussage der Zenzi damit in Frage stellen. Usw.
Advocatus kann auch die Antworten, die Zenzi ihm evtl. gegeben hat vor Gericht verwenden, um Zenzis Aussage vor Gericht in Frage zu stellen, wenn die Antworten das ergeben.
In der Praxis allerdings sind dem meist Grenzen gesetzt: die meisten Zeugen, die bereitwillig vor der Polizei ausgesagt haben, und dabei den Tatverdächtigen belastet haben, sind in der Praxis der Verteidigung gegenüber nicht sonderlich auskunftswillig. Sie sehen sich meist als "Teil der Guten" und "Mitarbeiter der Polizei" und der Verteidiger arbeitet für die "Bösen," denen man nicht helfen will.
Ist Advocatus nun der Meinung, die Aussage dieser Zeugen ist notwendig und wichtig, bleibt ihm nichts als die Vorladung vor Gericht. Dort muss der Zeuge dann aussagen.
Im Prinzip ist das auch in Deutschland und auch in Dänemark so. Der Verteidiger hat also nicht mehr Rechte als jeder andere Mensch, z.B. jeder Journalist, die Zeugen privat zu befragen. Diese haben das Recht mit jedem zu sprechen oder es eben zu verweigern.
Allerdings gibt es in Dänemark, wie in anderen Ländern, auch Vorschriften, welche die Zeugen vor Beeinflussung, Bedrohung, usw. schützen sollen. Advocatus ist daher immer in Gefahr, wenn er die Zenzi abends um acht Uhr aufsucht, dass der Staatsanwalt ihm vorwirft, er wolle die arme alte Zenzi, die meist bereits um sieben ins Bett geht, unter Druck setzen, sie einschüchtern und so weiter. Das kann gravierende Folgen haben: Verlust der Anwaltszulassung, Strafanzeige usw.
Aus diesem Grund, so schreibt es z.B. Lars Bo Langsted in seinem Buch "Criminal Law in Denmark," fürchten sich viele dänische Verteidiger vor solchen Repressalien und verzichten auf aktive Ermittlungen: "The reason why most defence counsels in practice favour a passive defence...", denn der oberste dänische Gerichtshof hat dazu widersprüchliche Aussagen gemacht. Dennoch gilt auch in Dänemark grundsätzlich das Recht dazu.
(Langsted, Seite 136)
In meinem Land dagegen gilt es als sanktionswürdiges Versagen des Verteidigers, wenn er nicht ausreichend selbst ermittelt. Das liegt an der unterschiedlichen Struktur eines Strafverfahrens in angelsächsischen Ländern und den kontinentaleuropäischen Ländern.
In Dänemark wird, wie in den Ländern napoleonischer Tradition üblich, an der Fiktion festgehalten, dass die Polizei "neutral" ermittelt (Langsted 136) und der Verteidiger hat das Recht, formell zusätzliche Ermittlungen der Polizei zu beantragen (AJA § 96 [Dänisches Strafprozessgesetz Bekendtgørelse Af Lov Om Rettens Pleje] oder eben das Gericht zu veranlassen, das zu tun, wenn die Polizei sich weigert (AJA § 746).
Ich denke, dass das die Frage hier geklärt hat.
Quellen:
https://www.amazon.com/gp/search?index=books&linkCode=qs&keywords=9789041134219https://www.retsinformation.dk/Forms/R0710.aspx?id=192286