Helen559 schrieb:Die Bewertung nimmt dann das Revisionsgericht vor, sofern RAs Appelations-Anwälte aus den aktuellen Vorgängen etwas aufgreifen, was wohl anzunehmen ist. Sowie der vergleichbaren Vorgänge um Beweismaterial im Pre Trial, wozu ich mir gerade Deine zweite Quelle anhöre.
equinoxx schrieb:Sehe ich absolut genauso. Sonst könnte man direkt sagen, dass die ganze Diskussion hier Schnee von gestern ist, weil Richard Allen bereits verurteilt ist.
Genau so ist es. Es ist unsinnig, hier der Bewertung der einzelnen Dinge und des sich daraus ergebenden Gesamtbildes durch das Revisionsgericht vorzugreifen. Zwar ist RA derzeit verurteilt und die Revision befasst sich sehr selten mit Tatsachenfragen, aber sehr wohl mit Verfahrensfehlern. Und hier hat die Verteidigung doch einige interessante Punkte vorgelegt. Dass diese Richterin alle Anträge der Verteidigung ablehnt war zu erwarten, aber natürlich unterliegen auch diese Entscheidungen am Ende der Revision.
Solcherart Anträge auf der Ebene der Tatsacheninstanz haben meist wenig Erfolg (z.B. motion to correct error, wie sie in Indiana heissen), da die Richterin hier zugeben müsste, dass sie Fehler gemacht hat. Dennoch müssen sie gestellt werden, da es in unserem Rechtswesen die Pflicht gibt, eine Ausgangsbasis für die Revision zu erstellen, hier heisst das "create a record." Wenn man in der Revision einen Fehler anbringen will, muss dieser vorher irgendwo sichtbar geworden sein. Man kann nicht argumentieren: "ich hab den Antrag gar nicht erst gestellt, weil bei der voreingenommenen Richterin war es eh sinnlos." (Tatsächlich gibt es einzelne Ausnahmen für diesen Grundsatz, aber die treffen hier jetzt nicht zu).
AusLeipzig schrieb:In Deutschland zumindest ist es meines Wissens so, dass die StA neutral agieren soll. Klar, sie darf Indizien gegen den Tatverdächtigen auslegen. Aber sie soll nicht wissentlich falsche Sachverhalte behaupten um eine bestimmte Person verurteilen zu lassen. Vielmehr soll sie an der Aufklärung des Falls interessiert sein. Für mich scheint an dieser Stelle ein Punkt erreicht, an dem die StA wissentlich in zwei wesentlichen Punkten die Unwahrheit behauptet hat und nicht nur Indizien auf eine bestimmte Weise gedeutet hat. Es scheint das Video ja tatsächlich zu geben und mit dem Video, dass die StA ja kannte ist deren Deutung an zwei Punkten definitiv widerlegt.
Hier würde mich jetzt @RickBlaines Einschätzung interessieren. Ist es in den USA auch so, dass die StA quasi neutral agieren soll und ist solches Verhalten/Vorgehen auch irgendwie rechtlich relevant entweder für den Prozess oder kann es Konsequenzen für die konkreten Aktuere in der StA haben?
Hier beissen sich sehr oft Theorie und Praxis, und zwar in Deutschland: ja, die Staatsanwaltschaft soll der Theorie nach "neutral" ermitteln, bzw. ihre früher sogenannten "Hilfsorgane," also die Polizei, dazu anhalten. Aber das findet in der Praxis nur in Massen statt. Natürlich können Ermittler schlecht übersehen, wenn ein schön Tatverdächtiger ein wasserfestes Alibi hat. Aber in den vielen kleinen und grossen Ermittlungsschritten, wo die Sache nicht so eindeutig ist, sich aber ein gewisser Tatverdacht ergeben hat, ermittelt die Polizei auch unter der Prämisse, diesen erhärten zu wollen.
Und das ist hier in den USA ganz genauso. Zwar gibt es in unserem "adversarial system" keine vergleichbare theoretische Aussage, dass die Staatsanwaltschaft, und damit auch hier die Polizei, "neutral zu ermitteln habe," aber die Rechtssprechung hat in dieser Hinsicht einige wichtige Parameter gesetzt:
Der wichtigste ist, dass wenn die StA im Laufe ihrer Ermittlungen zu potentiellen Beweismitteln kommt, die die Unschuld des Verdächtigen nahelegen, muss sie diese der Verteidigung zeitnah übermitteln. So hat es der amerikanische oberste Gerichtshof 1963 im Präzedenzfall
Brady v. Maryland entschieden. In Folge von
Brady gab es noch zahlreiche erläuternde Urteile, die eine dahingehend "neutrale" Ermittlungspflicht darstellen, die man vielleicht so beschreiben kann: Die StA muss nicht nach Beweisen für die Unschuld des Verdächtigen suchen, aber findet sie solche, die die Unschuld wahrscheinlicher machen, muss sie diese der Verteidigung mitteilen. Tut sie das nicht ist das ein eklatanter Verfahrensfehler und Verstoss gegen die Verfassungsrechte und das Urteil muss aufgehoben werden.
Das fasst m.E. die praktische Situation gut zusammen: Von der Polizei sollte man nicht erwarten, dass sie nach Beweisen der Unschuld sucht, denn ihr Job ist das Gegenteil. Aber wenn sie bei ihrer Arbeit auf solche Beweise stösst, darf sie dies keinesfalls verheimlichen.
An einer solchen Stelle angekommen, ist es dann Aufgabe beider Seiten weiterzuermitteln: die Polizei wird versuchen, Beweise für die Schuld zu finden, welche dann zwangsläufig die gefundenen Beweise, die auf Unschuld hinweisen entkräften, und die Verteidigung wird es genau umgekehrt machen.