Hallo liebe Diskutanten,
ich bin jetzt hier schon seit langer Zeit stiller Mitleser und habe auch einige der Videos von lawyerlee geschaut und mir einige Artikel zu dem Fall durchgelesen. Vielen Dank für die vielen interessanten und erhellenden Kommentare und die Hinweise auf die verschiedenen Quellen. Besonders dankbar bin ich immer für die Einlassungen von @RickBlaine.
Es werden hier viel Detailfragen diskutiert, ich habe mich aber gefragt, ob es vielleicht hilfreich sein könnte, noch einmal darüber nachzudenken, was eigentlich die zentralen Knackpunkte des Falls sind und wie die verschiedenen Details mit diesen verbunden sind. Da sehe ich drei Punkte bzw. Cluster:
1. Beweisen die Zeugenaussagen (und die von RA), dass es sich bei RA um BG handelt und handelt es sich bei BG um den (bzw. einen der) Mörder?
2. Beweisen seine Geständnisse, dass es sich bei RA um den Mörder handelt, weil sie sich a) nicht durch Psychosen erklären lassen oder weil sie b) eindeutiges Täterwissen enthalten (Tapetenschneider/weißer Van)?
3. Lässt sich mit der gefunden Patrone beweisen, dass RA diese aus seiner Pistole ausgeworfen hat und macht ihn das zum Mörder?
Dabei könnte man meinem Verständnis nach auch zu einer Verurteilung von RA kommen, wenn alle Punkte keinen Beweis liefern, aber jeweils so wahrscheinlich ist, dass sie sie zusammengenommen zwingend nahelegen. Wenn ich bspw. sage, alle drei legen mit 90% Wahrscheinlichkeit nahe, dass RA der Täter ist, dann ergibt sich nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung eine 99,9% Chance, dass RA schuldig ist. Für mich persönlich wäre dabei die Grenze 1%: Bei einer 1%-Wahrscheinlichkeit würde ich von berechtigten Zweifeln sprechen. Immerhin sind Dinge, denen wir eine 1%-Wahrscheinlichkeit zuschreiben, in einem von 100 oder 100 von 10.000 Fällen passiert, wenn wir denn die richtigen Wahrscheinlichkeiten angenommen haben. Ich kann verstehen, wenn Leute das mit diesen Wahrscheinlichkeiten albern finden, weil wir natürlich nicht wirklich präzise mathematische Wahrscheinlichkeiten angeben könnten, sondern nur Einschätzungen, aber ich finde es hilfreich, um darüber nachzudenken.
Umgekehrt stellt sich zum einen die Frage, die im Prozess nicht zur Sprache kam:
4. Gibt es ausreichend solide Hinweise auf andere Täter, um RAs Täterschaft in Frage zu stellen?
Und zum anderen:
5. Könnte die Verteidigung den rekonstruierten Ablauf auf eine Weise Infragestellen, die RA als Täter unwahrscheinlich macht/ausschließt?
Da würde mich erstmal interessieren: seht ihr noch andere entscheidende Knackpunkte, was sind für euch bei diesen fünf Punkten jeweils die entscheidenden Indizien? Was man vielleicht noch ergänzen könnte wären so statistische Sachen wie: meistens ist der Täter mit den Opfern bekannt, was bei RA ja nicht der Fall wäre, an sich bei diesem Verbrechen gut möglich gewesen wäre. Das wäre dann ein Fakt der etwas gegen RAs Täterschaft sprechen würde, aber man sollte das vermutlich nicht zu stark gewichten.
Außerdem möchte ich meine Gedanken zur 1. Frage mit euch teilen und freue mich über eure Rückmeldungen. Meine Hauptquelle ist dieses Video von lawyerlee
Delphi Murders - Deep Dive into the Timeline - Lawyer LIVE
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außerdem beziehe mich auf Sachen, die hier im Thread zuletzt auch mehrmals diskutiert wurden. Falls es entsprechenden Bedarf gibt, kann ich auch gerne nochmal versuchen, Timestamps für einzelne Punkte nachzuliefern!
Zunächst hat RA ausgesagt, dass er sich am fraglichen Tag in der Gegend befand und dass er eine dem BG ähnliche Kleidung trug. Zugleich war das auch kein so besondere Kleidung und auch andere scheinen sich änhlich gekleidet zu haben. Meines Wissens hat nur die moody-bloody-Frau eine genauere Beschreibung der Kleidung angegeben und die variierte ja auch in ihren Aussagen.Insgesamt würde ich hier von einem schwachen Indiz für RAs Schuld sprechen.70:30
Etwas stäker würde ich die Tatsache bewerten, dass RA anscheinend nicht auf seinem Rückweg, sondern nur auf seinem Hinweg gesehen wurde. Das kann Zufall gewesen sein, aber es passt schon sehr dazu, dass RA nach einer möglichen Tatausübung nicht mehr gesehen werden wollte Zudem legt die Sichtung des moody-bloody-guys nahe, dass der Täter bzw BG zu Fuß das Gebiet verließ. Ein bisschen fragwürdig finde ich daran, dass er beim Hinweg nicht darauf achtete, nicht gesehen zu werden. Das ergäbe für mich irgendwie mehr Sinn, wenn er ja vorhatte eine Tat zu begehen und dann ja auch daran dachte auf dem Rückweg nicht gesehen zu werden. Aber vielleicht rührte letzteres auch ausschließlich daher, dass er so deutliche Spuren der Tat an sich hätte, dass er nicht gesehen werden wollte. 70:30
Die Tatsache dass RA sich überhaupt direkt selbst meldete spricht für mich ein bisschen gegen seine Täterschaft, man kann sich aber schon gut vorstellen, dass er damit dachte sich damit unverdächtiger zu machen, was ja vielleicht zuerst auch zutraf. 40:60Dass seine zweite Aussage Jahre später sich dann wiederum von seiner ersten unterschied sehe ich als nicht besonders aussagekräftiges Indiz. Dass eine Zeuge sich später nicht mehr richtig erinnert und dass ein Mörder darauf achtet bei seiner ersten Aussage zu bleiben ist beides gut denkbar. 50:50
Entscheidend sind für mich vor allem die Aussagen der vier jungen Frauen, die jemand trafen, den sie mit BG identifizierten, sonst allerdings keinen einzelnen Mann mit passender Kleidung. Dass überschneidet sich ja mit RAs Aussage, dass er drei junge Frauen begegnete. Hier gibt es diesen interessanten Punkt, dass RA eben von drei Frauen spricht und auch andere Zeug/innen teilweise von drei statt vier jungen Frauen sprachen. Gab es vielleicht zwei Gruppen, von denen eine (die mit den drei Frauen) sich nicht meldete? Falls ja könnte RA theoretisch den drei und BG den vier begegnet sein. Gleichzeitig passen die Aussagen der vier zu gut mit den anderen Zeugen zusammen und niemand will zwei Gruppen junger Frauen getroffen haben, also lässt sich das wohl ausschließen. Insofern können wir auch ziemlich sicher sein, dass die Frauen RA trafen, schlicht weil er davon berichtete, dass er sie traf und sie auch berichteten jemand mit der passenden Kleidung getroffen zu haben.
Dann gibt es die Sache, dass zwei unterschiedliche Zeiten im Raum stehen, wann sie RA trafen. Eine Zeugin sagte aus, dass sie ihn ungefähr 50 Minuten vor dem Aufeinandertreffen von Abby und Libby mit BG trafen, eine andere meinte, dass sie ihn zu diesem Zeitpunkt an einer völlig anderen Stelle trafen. Letzteres würde RA als Täter ausschliesen! Allerdings hat die Staatsanwaltschaft recht überzeugend argumentiert, dass ein Foto belegt, dass sie sich eine Stunde vor dem Snap-Chat-Video direkt vor der Stelle befanden an der sie auf RA trafen. Also können wir wohl mit 90%-Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sie RA zeitlich weit vor dem Snap-Chat-Video trafen sodass er gut BG sein kann. Darüberhinaus ist diese Wahrscheinlichkeit für uns aber erstmal unerheblich weil die 90% nur besagen, dass RA kein Alibi hat, insofern haben wir hier kein Indiz
für seine Schuld, sondern nur kein Indiz
für seine Unschuld.
Bleibt die Tatsache dass sie RA, den sie ja trafen, mit BG identifizierten. Das muss aber anhand des Snap-Chat-Videos geschehen sein. Falls ich mich hier darin irre, wirft das natürlich meine folgenden Überlegungen über den Haufen, also weist mich gerne darauf hin.
Nun sind sich ja,
@Grillage und @Helen959, die ja am entschiedensten hier für Schuld oder Unschuld plädieren, darin einig, dass man auf den Videos nur wenig erkennen kann. Das macht die Identifizierung für mich aber auch sehr fragwürdig.
Letztendlich: wenn das Indiz hauptsächlich darauf gründet, dass wir uns sicher sein können, dass sie RA getroffen haben, was bringt uns das eigentlich? Die Aussagekraft besteht dann ja ausschließlich in ihrer Fähigkeit RA mit dem Typ in dem Video zu identifizieren und dafür sind sie ja nicht qualifizierter als irgendwer sonst. Das bringt eigentlich genauso viel wie wenn wir uns Ra anschauen und überlegen ob es sich optisch um BG handelt. Was vermutlich zur Identifizierung beitrug ist die identische Kleidung und die spricht ja für ihn als Täter, aber das berücksichtigen wir ja schon oben. Es wurde ja im Thread schon erwähnt dass eine der Zeuginnen sich an den Typen den sie trafen als jungen RA völlig unähnlich sehenden Typen erinnerte. Trotzdem könnte auch sie den Typen, an den sie sich erinnerte im BG wiedererkennen. Das Video von BG funktioniert hier im Prinzip wie ein Rohrschach-Test, man kann darin sehen wen man möchte. Insofern kann ich das Indiz der drei Frauen insgesamt aber nur als 50:50 werten.
Dann bleibt noch die moody-and-bloody Frau, die ich so nenne weil sie ja zuerst meinte jemanden in matschigen, dann in blutigen, dann in matschigen und blutigen Klamotten gesehen zu haben und zwar rund eine Dreiviertelstunde nach dem Snapchatvideo wie dieser von der Gegend des Tatorts weglief. Es scheint sehr wahrscheinlich, dass es sich dabei um den Mörder handelte. Diese Frau beschrieb denjenigen aber ganz andere als RA woher ja auch der eine Sketch stammte, der im Prozess nicht gezeigt wurde. Wie man vielleicht gemerkt hat halte ich nicht so unglaublich viel von der Fähigkeit von Leuten jemand korrekt zu beschreiben, also bleibe ich konservativ: 40:60 für RA.
Insgesamt komme ich für diesen Cluster an Indizien auf rund 60:40 für RAs Schuld. (Wenn man die beiden Themen, die RA entlasten könnten, außen vor lässt, bräuchte man für die drei Punkte jeweils 80% um am Ende auf 99% zu kommen, also bräuchte man bei den beiden anderen Punkten etwas stärkere Indizien, wenn man meinen Ausführungen folgt) Gibt es etwas was ihr ergänzen würdet oder was ihr ganz anders bewertet?