Kaietan schrieb:Da die gefundene Patrone bislang ja immer noch der einzig eindeutige direkte Link zwischen Tatort und Angeklagtem ist, dürfte dem Indiz eine große Bedeutung zukommen. Ein von der Verteidigung für die Bewertung dieses Indizes benannter Experte wurde vom Gericht abgelehnt. Ich vermute, dass das die Verteidigung ganz schön ins Schwimmen bringen könnte. Darf sie einen anderen Experten nachbenennen? Bekommt der, falls nötig, noch Zeit, um sich mit der Sachlage zu beschäftigen? Wie häufig kommt es vor, dass solche Experten abgelehnt werden? Ich vermute, die Verteidigung wird angesichts der Relevanz des Indizes sehr sorgfältig abgewogen haben, wen sie zu Rate ziehen. Und bei Spuren auf Metallen, scheint es auch nicht unsinnig, einen Metallurgen zu konsultieren. Daher wundert mich es schon sehr, dass der benannte Experte aus Sicht des Gerichts keine ausreichende Sachkenntnis hat. Wie schätzt du diesen Aspekt ein?
Ja, die Patrone scheint bisher das einzige Indiz zu sein, das eine direkte Verbindung zum Angeklagten herstellt. Vor allem für die Verteidigung ist dies also der zentrale Punkt.
Ich hatte noch nicht die Zeit, mir die Begründung der Ablehnung des Experten durchzulesen, aber das ist sicherlich nicht gut für die Verteidigung, passt aber zu meiner Einschätzung dieser Richterin.
Dass Experten abgelehnt werden kommt schon vor, allerdings nicht sehr oft. Als Verteidiger habe ich natürlich gerne einen Reserveexperten, was natürlich auch eine Geldfrage ist. Im laufenden Verfahren einen neuen zu beauftragen wird sicherlich grossen Protest hervorrufen und wegen der notwendigen Zeit, ein Gutachten zu erstellen, eher nicht erfolgreich sein.
Man kann und wird natürlich auch die Erkenntnisse des eigenen Experten nutzen, den Experten der Anklage im Kreuzverhör zuzusetzen, dazu braucht man den eigenen Experten nicht selbst als Zeugen.
Aber dieser Punkt wird noch extrem interessant werden.
Kaietan schrieb:Die Zeitungsartikel geben alle nicht wieder, dass die Zeugen, die vermeintlich Bridge Guy im Wald, auf der Strasse oder auf der Brücke gesehen haben gefragt wurden, ob die von ihnen damals gesehene Person der Angeklagte ist. Das ist doch der eigentlich entscheidende Punkt. Vielleicht hab ichs überlesen, aber nirgendwo habe ich gefunden, dass ein Zeuge überhaupt danach gefragt wurde und gar sagte: "Ja, der ist es." oder dass sie es nicht Bestimmtheit sagen oder gar ausschliessen konnten. Wird so eine Frage in der Verhandlung generell nicht gestellt? Oder kommt das noch im Verlauf des Prozesses?
Das hat mich auch sehr überrascht. Ich weiss nicht ob es an der Berichterstattung liegt oder was hier die Strategie von beiden Seiten ist. Als Staatsanwalt frage ich meine Zeugen natürlich lange vorher genau nach diesem entscheidenden Punkt. Oft wird ja auch eine Gegenüberstellung vorher veranlasst, in welcher die Zeugen dann 'hoffentlich' den Angeklagten aus einer Reihe von sich ähnlich sehenden Personen herauspicken. Und wenn sich meine Zeugen sicher sind, dann frage ich als Staatsanwalt natürlich genau diese Frage in der Verhandlung.
Ist das hier nicht geschehen, darf man also schon vermuten, dass die Zeugen sich nicht sicher sind, den Angeklagten hier gesehen zu haben. Sie scheinen sich sicher zu sein, einen Mann gesehen zu haben, der wie der bridge guy auf dem Foto ausschaut. Auch aus den Presseberichten lange vor der Verhandlung schimmerte aber immer irgendwie durch, dass die Zeugen sich wohl nie festgelegt haben, dass es sich um den Angeklagten handelte.
Als Staatsanwalt hoffe ich dann, dass die Jury 1+1 zusammenzählt, aus weiteren Indizien, welche die Anwesenheit des Angeklagten um die Tatzeit um den Tatort herum belegen und einer zumindest gewissen Ähnlichkeit mit dem bridge guy, und selbst der Meinung ist, es wird der wohl gewesen sein.
Als Verteidiger bringt mich das jetzt in eine etwas schwierige Position: lasse ich es dabei und hoffe, die Jury wird selbst merken, dass hier bei den Zeugen eine Ungewissheit besteht? Oder frage ich die Zeugen ganz pointiert, auf die Gefahr hin, dass sie dann doch auf einmal sagen: ja, doch, wenn Sie mich so fragen, der Angeklagte ist der Mann, den ich gesehen habe?
Ungewöhnlich -aber nicht unmöglich- ist es, Zeugen noch ein zweites Mal aufzurufen, um weitere Fragen zu stellen. Das muss aber dann normalerweise bereits bei der ersten Befragung angekündigt werden.