Andante schrieb:Was meinst du damit, dass ein einzelnes Indiz so oder so interpretierbar ist? Nenne doch mal ein Beispiel.
- Aussage des P. Lässt sich als wahre oder falsche Aussage interpretieren.
- Aussage des Mazurek bei den abgehörten Gesprächen zur Verjährung: Lässt sich als Äußerung eines unbescholtenen Beschuldigten oder als Hinweis auf Tatbeteiligung interpretieren.
- Gutachten TK 248: Lässt sich als Nachweis der Verwendung des TK 248 von Mazurek interpretieren - oder als missglückten Versuch, etwas nachzuweisen.
- Zeugenaussage über Tonbandspielereien anno 1973: Lässt sich als Nachweis eines TK 248 im Eigentum des Mazurek interpretieren - oder als unzuverlässige Erinnerung, die nicht mehr enthält wie die Tatsache, dass Mazurek 1973 ein Tonbandgerät besaß, mit dem er Radioaufnahmen nachmachte.
- Bretter in der Halle: Bestandteile der Kiste oder Material für Fischkutter? Beides möglich.
Usw. Beide Möglichkeiten sind gut vertretbar und begründbar, das ist hier sehr häufig, viel häufiger als in anderen Fällen, wo bei wesentlichen Kernindizen andere Interpretation abwegig wären.
Das Gericht wählte hier immer die belastende Variante. Auch bei sehr alten, sehr unzuverlässigen und sehr ungenauen Aussagen. Warum? Weil die Gesamtschau als "Vorgesamtschau" schon im Hinterkopf war, spätestens nach den Plädoyers. Und weil die Bewertung eben schon im Lichte des voraussichtlichen Ergebnisses der Gesamtschau erfolge. Diese "Vorgesamtschau" ist auch notwendig, weil ein Ergebnis nicht durch Addition der Indizien bzw. der entsprechenden Bewertungen gefunden werden kann.
"Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile." - Das trifft auch auf die Gesamtwürdigung eines Falles zu. Die Beweiswürdigung ist ein mehrschichtiger Erkenntnisprozess, der nicht nur aus 2 Stufen besteht. Das ist eine sehr geraffte Sicht. Wir arbeiten alle mit vorläufigen Bewertungen und Schlussfolgerungen im Lichte dieser Erkenntnisse, bevor Details genauer betrachtet und Ergebnisse wieder abgeändert werden.
Hier sagt sich ein Gericht, "wir haben (fiktiv) 15 Indizien, die können alle so oder so interpretiert werden. Aber wir glauben, in dieser Zahl, in dieser Kombination, können diese Tatsachen gegen einen Unbescholtenen nicht zusammen kommen. Das kann eben kein Zufall mehr sein. Auch wenn man diese Tatsachen jeweils anders interpretieren könnte."
Und von diesem Denkergebnis ausgehend, werden dann die Beweise eingesammelt, die zum Schluss die Begründung ausmachen. Und das ist dann halt ein Kunstwerk.
Rechtlich ist das möglich und zulässig. Dafür gibt es auch schwerwiegende Gründe. Und meist ist das auch kein Problem, nur eben in diesen relativ wenigen Fällen, wo man es vielleicht zu weit getrieben hat. Wo es gar kein Indiz gibt, das nicht bewertungsfrei wäre. Denn dann ist es völlig normal, dass nicht nur Verurteilte, sondern auch Angehörige der Opfer, sogar Ermittlungsbeteiligte wie Polizisten und Staatsanwälte kommen und sagen: Wir sehen das nicht so.
Dann waren vielleicht die Richter überzeugt. Aber das Urteil überzeugt nicht.