https://www.volksstimme.de/sachsen-anhalt/vermisst-kriminologin-spricht-ueber-den-fall-inga (Archiv-Version vom 21.05.2020)Volksstimme 2018 - Interview mit Kriminologin Bettina Goetze:
Welche Szenarien kommen denn für Sie in Betracht?Wie gesagt, ein Verlaufen im Wald oder Wegrennen von Inga können wir ausklammern. Die Suchtrupps der Polizei einschließlich Fährtenhunden hätten das Kind spätestens einen Tag nach dem Verschwinden auch bei der großen Waldfläche gefunden. Die Polizei war sofort am Einsatzort und begann eine intensive Absuche der Gegend. Der Angriff eines Tieres im Wald erscheint mir auch nicht plausibel. Für diesen Fall hätte man sicher menschliche Überreste finden müssen.
Wie könnte es passiert sein?Deshalb bleibt nur eine erklärbare Version: Ingas Verschwinden steht wahrscheinlich im Zusammenhang mit einer Person und damit einem Verbrechen. Mobile Täter, die sich zufällig an diesem Abend in der doch sehr bewaldeten, abgelegenen Umgebung befanden und auf ihr Opfer warteten, sind zwar immer in Betracht zu ziehen, aber eher unwahrscheinlich. Aus meiner Sicht wurde das Kind bei einer günstigen Gelegenheit von einer Person angesprochen, die Inga vermutlich kannte – und sei es durch kurze Gespräche auf dem Gelände – und im Anschluss an einen anderen Ort verbracht.
Meinen Sie damit, dass eine Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Täter auf dem Gelände zu finden ist? Wenn ja, dann müsste er ja bereits vernommen worden sein?Zumindest wäre es eine logische Variante. Untersuchungen zeigen, dass viele Pädophile einen Beruf ausüben, der mit Kindern, Jugendlichen, Patentinnen und Patienten zu tun hat. Es geht oft um pädagogische Kontexte oder Fürsorge. Das bedeutet aber keineswegs, dass pädophile Menschen ausschließlich in diesen Berufsfeldern agieren, die Bandbreite ist recht groß. Natürlich darf man diese soziale Berufsgruppe nicht unter Generalverdacht stellen. Gleiches gilt für die Mitarbeiter des Diakoniegeländes Wilhelmshof. Aus meiner Sicht stammt der Täter aus dem sozialen Nahraum. Anders formuliert: Die Wahrscheinlichkeit, dass er einen starken Ortsbezug aufweist, ist viel höher, als dass ein Fremdtäter zufällig auf sein Opfer ausgerechnet auf diesem Areal gestoßen ist. Die statistische Wahrscheinlichkeit für einen Fremdtäter liegt bei 20 Prozent im pädophilen Bereich. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sich zu 80 Prozent Täter und Opfer vorab bereits kannten. Mich würde es nicht wundern, wenn sogar der Name des Täters schon in den Akten steht, und sei es nur, weil man ihn damals als Zeuge vernommen hat und er einfach durch das Raster fiel. Die Polizei hat sicher alles Mögliche versucht, um den Täter zu ermitteln. Sie stößt aber auch auf Grenzen. Manchmal fehlen die entscheidenden Beweise.
Es könnten doch auch Patienten oder Besucher als Täter infrage kommen. Das Gelände ist ja frei zugänglich ...Natürlich ist das auch möglich. Da spricht aber die von mir bereits erwähnte statistische Wahrscheinlichkeit dagegen. Vor dem Hintergrund der Reduzierung des Entdeckungsrisikos ist es schwer vorstellbar, dass Täter und Opfer im Anschluss zu Fuß unterwegs waren. Ob die Umstände für einen Patienten oder Besucher der Einrichtung so passend sind, würde ich fast bezweifeln. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Täter dürfte sich bereits auf dem Gelände befunden haben, indem er einen Bezug dorthin aufweist. Wie dieser aussieht, das ist die zentrale Frage.