Lindström schrieb:Ich würde durchdrehen, selbst wenn ich ohne Absicht (z. B. Unfall), ein Menschenleben auf dem Gewissen hätte.
Da ist ja wahrscheinlich schon mal einer der bedeutenden Unterschiede. Er hat ja gerade nicht aus Versehen, sondern ganz bewusst und sogar mindestens mittelfristig geplant so gehandelt. Er hatte vorher genug Zeit, um das moralisch mit sich auszumachen.
Meiner Meinung, und das ist wirklich nur meine persönliche Meinung, ich weiß nicht, ob es tatsächlich so ist, hat er sich das so zurecht gelegt, dass die Tat gerechtfertigt war. Er hatte sehr hart für dieses Haus gearbeitet, durch die Immobilienkrise hätte er sich extrem verschlechtert, wenn er das Haus ver- und ein anderes gekauft hätte. "Er wollte ja nur seine Ruhe haben und diese Tolls haben kein bisschen Rücksicht auf ihn genommen."
Zum einen begeht sonst niemand geplant so eine schreckliche Tat (3 Menschen aus nächster Nähe erschießen, teilweise im Schlaf und die Tochter allein schon durch ihrer Einschränkung völlig wehrlos) und zum anderen, wie Du sagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand ansonsten damit weiterleben kann und sein Gesicht auch noch dreist grinsend in jede Kamera hält, die vorbei kommt (auch wenn das im Knast nicht allzu viele sind...).
Am schlimmsten finde ich, dass Herr Toll, bzw. die ganze Familie genauso gefangen war in der Wohn- und Nachbarschaftssituation wie die Darsows.
Sie hatten die behinderte Tochter, die die Eltern tyrannisierte, weil sie als Autistin keine Veränderungen im Wohnumfeld duldete und vorschrieb, wie der Haushalt zu führen sei. Wenn etwas nicht nach ihrem Willen lief, reagierte sie mit diesen Tierlauten. Dieses Verhalten hat sie auch in der Werkstatt, in der sie tagsüber tätig war gezeigt, das wird im Urteil ziemlich eindrücklich beschrieben.
Mit der Tochter umzuziehen und sie in eine neue Wohnumgebung einzugewöhnen wäre also wohl ein ziemlicher Aufwand gewesen. In dem Reihenhaus hatte die Tochter im oberen Stockwerk einen eigenen Wohnbereich, so dass man sich zumindest so etwas aus dem Weg gehen konnte. Und in jeder anderen Mietwohnung hätte es sicher schnell den gleichen Ärger mit den neuen Nachbarn gegeben, weil auch da Lärm zu erwarten gewesen wäre und die Nachbarn noch enger an der eigenen Wohnung gewohnt hätten. Ein Reihenendhaus mit nur einem direkt angrenzenden Nachbarreihenhaus war da schon eine recht gute Kompromisslösung; v.a. im Anbetracht der finanziellen Situation, die auch den Toll sicher kein freistehendes Haus im Rhein-Main-Gebiet ermöglicht hätte.
Es ist nicht mal gesagt, dass die Tolls sich nicht um Ruhe bemüht haben. Sie haben ja offenbar ziemlich nach der Pfeife der Tochter getanzt, um deren Zornesausbrüche zu umschiffen (laut Urteil stand die ganze Treppe voller Entenfiguren, um die man fast Slalom laufen musste und keine durfte nach dem Willen von Astrid Toll verschoben werden).
Und in einer angespannten Ehesituation mit blank liegenden Nerven gibt es nun mal häufig Streit. Auch den haben die Tolls sicher nicht extra herbeigeführt, sondern die Situation ist nun mal regelmäßig und oft eskaliert. Wer weiß denn, ob Herr oder Frau Toll nach dem ersten Gekeife des anderen nicht jedes Mal "Tschhh, nicht so laut, Du weißt, das stört die Nachbarn" gezischt hat. Aber wenn ein Wort das andere gibt, hat man eben die Lautstärke auch oft nicht mehr im Griff, vor allem wenn dieser Umgangston erstmal so eingerissen ist.
Zu bedenken ist auch, dass die Tolls krank waren. Astrid Toll war Autistin, Frau Toll hatte wohl zumindest eine Angststörung und eine Störung der sozialen Anpassung und Herr Toll war Alkoholiker. Natürlich kann man sagen "Die Frau war nicht ganz normal und er hat gesoffen.", aber es handelt sich tatsächlich um medizinisch und psychologisch anerkannte Krankheitsbilder. Diese Personen hätten also Hilfe gebraucht, die sie sich vielleicht selber nicht holen konnten.
Dann kommt dieser Nachbar, bittet um Ruhe, die man ihm nicht zusagen kann, einfach, weil die Tochter krank ist und man weiß, dass man ihre Wutausbrüche selbst mit großem Aufwand nicht kontrollieren kann.
Dann schickt er Briefe, erkundigt sich beim Vermieter, ob der nicht was gegen Tolls unternehmen kann, ruft die Polizei wegen Ruhestörung, lässt Briefe durch einen befreundeten Polizisten als Boten übergeben.... das ist aus Sicht eines Menschen, dem man eine Situation vorwirft, an der er aus eigener Sicht wenig ändern kann und unter der er selber mit Sicherheit extrem leidet, schon eine ziemliche Eskalation der Druckmittel. Vor allem die Kontaktaufnahme beim Vermieter werden die Tolls zudem als Bedrohung für ihre Wohnsituation wahrgenommen haben. Angesichts der schlechten finanziellen Situation wäre es sicher schwer gewesen, überhaupt eine neue Mietwohnung zu finden, wenn man bei der finanziellen Selbstauskunft nicht viel vorzuweisen hat.
Insofern stimmt es sicher nicht, dass die Tolls sich nicht bemüht haben, die Situation erträglicher zu gestalten. Aber für Darsow hat es wohl so ausgesehen, als wären ihnen seine Bedürfnisse, Anliegen und Beschwerden vollkommen egal, weil sie einfach nur rücksichtlos und ignorant sind.
Ich denke, dass er zumindest z.T. der Meinung ist, dass die es verdient haben.