27 Jahre Suche nach dem Mörder
Zwei Morde, die zu DDR-Zeiten im Bezirk Karl-Marx-Stadt wurden, sind bis heute nicht aufgeklärt. Dazu gehört der Fall einer jungen Vogtländerin. Das Verbrechen ereignete sich am 9. April 1987.
Plauen/Zwickau. Seit 15 Jahren genießt Dieter Wolfram den Ruhestand. Doch richtig zur Ruhe kommt er nicht. Mehr als 30 Jahre lang war er Chef der Mordkommission im damaligen Bezirk Karl-Marx-Stadt, später Chemnitz - bis er 1999 ausschied. Für sich selbst schrieb er danach ein Buch - mit allen 274 Tötungsdelikten, die er zu bearbeiten hatte. Fragt man ihn nach dem Fall Heike Wunderlich, legt sich seine Stirn noch ein bisschen mehr in Falten. Dann holt er tief Luft und seufzt: "Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Maad im Wald noch heute vor mir liegen. Ihr Moped nur ein paar Meter daneben." Dieter Wolfram ist einer, den Ereignisse nicht so schnell aus der Bahn werfen. Die Umstände, wie Heike Wunderlich mit ihren gerade einmal 18 Jahren getötet wurde, erschüttern ihn bis heute. Vor allem, weil der Mörder noch immer auf freiem Fuß ist - 27 Jahre nach dem grausamen Verbrechen.
Auch Enrico Petzold treibt genau das um. Der 45-jährige Kriminalhauptkommissar übernahm 2005 im Zuge der Umstrukturierung der Polizei die Akten zum Fall Wunderlich. Weit über 100 Ordner sind es mittlerweile. Ein Foto der jungen Frau, die heute genauso alt wie er wäre, hängt in seinem Arbeitszimmer in Zwickau an der Wand - als wollte es mahnen, bei der Tätersuche nicht aufzugeben. Mit Aufmerksamkeit las der Kriminalist vor wenigen Tagen, dass in Osnabrück ein Mann verurteilt wurde, der vor 26 Jahren eine Neunjährige auf dem Weg zur Schule vergewaltigt und ermordet hatte. Wie gern würde Petzold mit einer solchen Nachricht nach Altensalz fahren, wo Heike Wunderlich begraben liegt und ihre Eltern bis heute leben. Er hält Kontakt zur Familie, vor allem über den drei Jahre jüngeren Bruder, und hat nur einen Wunsch: "Ich möchte, dass es die Eltern noch erleben, wie wir den Täter finden."
Petzolds Ehrgeiz und seine Hoffnung kommen nicht von ungefähr: "Jeder Täter hinterlässt Spuren. So auch in diesem Fall." Seit es möglich ist, anhand winziger Spuren auch nach vielen Jahren noch den genetischen Fingerabdruck von Tätern zu bestimmen, ist auch in den Fall Wunderlich Bewegung gekommen. Es reicht eine Schuppe oder ein Haar, um die DNA eines Mörders zu ermitteln. Bereits im Jahr 2000 hatten Chemnitzer Kriminalisten deshalb am Tatort gefundene und wohlverwahrte Gegenstände - sogenannte Spurenträger - zum Landeskriminalamt geschickt. Dort gelang es Spezialisten, zumindest Teile der genetischen Erbinformationen - vermutlich des Täters - zu isolieren. Es war keine vollständige DNA-Spur, aber ein Ansatz. Vor über einem Jahr erfuhr Hauptkommissar Petzold von neuen, genaueren Methoden zur DNA-Bestimmung in der Uniklinik Mainz. Er entschloss sich, seinerzeit gesicherte Haare, die definitiv nicht vom Opfer und mit ziemlicher Sicherheit nicht von "Tatortberechtigten" - also zum Beispiel der Spurensicherung - stammen, einzuschicken. Im Januar gab es Gewissheit: An einem Haar haben Spezialisten eine männliche DNA-Spur bestimmen können: mit großer Wahrscheinlichkeit die des Täters.
Bis heute wurden 3200 Männer im Rahmen der Ermittlungen als Täter ausgeschlossen. Auch jener 50-jährige Melker, gegen den seit Februar wegen versuchten Totschlags ermittelt wird. Er hatte zwei Arbeitskolleginnen angegriffen und eine massiv gewürgt. "Als Mörder von Heike Wunderlich können wir ihn ausschließen", sagt Petzold. Der Abgleich mit Straftätern in der DNA-Kartei des Bundeskriminalamtes brachte ebenfalls keinen Treffer.
Parallel wurde anhand der bislang bekannten Indizien rekonstruiert, was sich in jener Nacht abgespielt haben könnte. "Wir sind dabei, die Knoten des Falls Stück für Stück zu lösen. Dabei sind wir zu neuen Erkenntnissen gelangt: Vermutlich war die Tat so nicht geplant", sagt der Kriminalist.
Foto: Polizei
Die 18-jährige Heike Wunderlich arbeitete damals als Stickerin im VEB Plauener Gardine. An jenem 9. April besuchte sie nachmittags die Mutter im Krankenhaus und fuhr danach mit ihrem roten Moped S 51 zur Volkshochschule nach Plauen. Dreimal die Woche bereitete sie sich dort in der Abendschule auf ein Studium vor. Nach dem Unterricht fuhr sie eine Mitschülerin heim. Anschließend besuchte sie in Plauen noch eine Freundin. Als gegen 21.45 Uhr der Regen nachließ, brach Heike Wunderlich zur Heimfahrt ins benachbarte Altensalz auf. Die Freundin vernahm in ihrer Wohnung die mehrmaligen Startversuche eines Mopeds, weiß aber nicht, ob es das von Heike war.
Die Angehörigen warten an jenem Abend vergeblich auf das Mädchen. Am nächsten Morgen verständigen sie die Polizei. Die erfährt gegen 15 Uhr, dass ein NVA-Soldat auf einem Holzplatz am Voigtsgrüner Weg, der von der B 173 abzweigt, eine tote Frau entdeckt hat: Heike Wunderlich. Sie liegt erdrosselt auf dem vom stundenlangen Regen aufgeweichten Boden, die Bekleidung um den Fundort verstreut. Kriminaltechniker können weder Fuß-, Finger- noch Reifenspuren sichern. Zwei Jahre ermittelt die Kripo ohne Erfolg. 1989 wird die Akte zunächst geschlossen.
Immer wieder hat Enrico Petzold Puzzlestücke zusammengetragen, die zumindest ein bisschen erhellen, was sich nach 21.45 Uhr abgespielt haben könnte. "Es gibt Zeugen die auf Höhe des heutigen Baumarkts Bauhaus an der B 173 eine Person gesehen haben, die ein Moped schob. Wahrscheinlich ist durch den Regen die Zündung ausgefallen, sodass Heike Wunderlich das Moped schieben musste." Petzold glaubt, dass sie von einem Mann angesprochen wurde, der ihr Hilfe anbot. "Mit hoher Sicherheit war er mit einem Auto unterwegs. Wir denken, dass Heike Wunderlich ihn kannte." Sie sei zwar von allen als aufgeschlossen, aber auch als vorsichtig beschrieben worden. "Deshalb bezweifle ich, dass sie zu einem Fremden ins Auto gestiegen wäre. Vielmehr hatte sie einen großen Freundes- und Bekanntenkreis." Wahrscheinlich schlug der Unbekannte vor, das Moped abzustellen und sie nach Hause zu fahren. "Doch was ist dann passiert? Ist er mit ihr noch an einen anderen Ort gefahren, weit weg vom Voigtsgrüner Weg, wo Opfer und Moped gefunden wurden?"
Genau dort macht ein Zeuge am nächsten Morgen eine Beobachtung. Da er täglich zwischen 3.25 und 3.50 Uhr auf der fast immer menschenleeren Straße fährt, stutzt er, als er ein helles Auto bemerkt. "Es stand da mit dem Heck zur Straße. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass es im Kennzeichen ein T für den Bezirk Karl-Marx-Stadt gab", sagt Petzold. "Wir haben also ein Zeitfenster von sechs Stunden, wo nicht klar ist, was sich abgespielt hat. Wer immer in dieser Zeit mit Heike Wunderlich zusammen war, er muss entweder allein, ein unauffälliges zurückgezogenes Leben geführt haben. Oder aber es gehörte zu seiner Arbeit, auch zu ungewöhnlichen und unregelmäßigen Zeiten unterwegs zu sein, sodass niemand stutzig wurde, wenn er nachts abwesend war oder erst morgens heimkam."
Die Ermittler gehen inzwischen davon aus, dass der Mann ein Angehöriger der bewaffneten Organe gewesen sein könnte. Die aufwendigen Überprüfungen dazu laufen seit längerem. "Wir suchen keinen Sexualstraftäter, der rumfährt und nach Opfern schaut", ist Petzold sicher. Und er glaubt auch, dass der Fundort nicht der Tatort war, sondern Opfer und Moped erst nach der Tötung dorthin gebracht wurden. "Wahrscheinlich hat der Täter bewusst Spuren so gelegt, dass wir zunächst lange in diese eine Richtung ermittelt und nach einem Mann in Plauen und Umgebung gefahndet haben. Er hat gezielt von sich abgelenkt, weil er wusste, wie die Polizei arbeitet."
Auch der Zwickauer Oberstaatsanwalt Holger Illing schließt sich dieser Version an. Er versichert, dass der Fall nicht zu den Akten gelegt wird, so lange es noch Ermittlungsansätze gibt. "Mich stimmt zuversichtlich, dass wir sichere, objektive Täterspuren haben. Es fehlt nur noch das Gegenstück" - der Treffer, wie die Ermittler sagen. Er selbst sei in seiner mehr als 30-jährigen Dienstzeit noch in keinen so langwierigen, komplizierten Fall involviert gewesen. Vor allem auch für die Angehörigen, die immer wieder Hoffnung schöpften und immer wieder enttäuscht wurden, hofft er auf einen Erfolg: "Sie sollten endlich Gewissheit haben."
Die Fragen der Polizei
Wer hat am 9. April 1987 nach 22 Uhr auf der damaligen F 173 zwischen Ortsausgang Plauen und dem Abzweig Voigtsgrüner Weg etwas beobachtet und das noch nicht mitgeteilt? Auch ungewöhnliche Vorkommnisse und scheinbar Nebensächliches in der Tatnacht und den Morgenstunden des Folgetages im Umkreis von Plauen interessieren die Ermittler.
Vielleicht hat auch jemand Kenntnis zum Fall oder zu Personen, der sich aber scheut, mit der Polizei Kontakt aufzunehmen. Es besteht die Möglichkeit, sich anonym anzuvertrauen. Bei der Polizei steht dafür die Nummer 0375 4284480 sowie die E-Mail-Adresse kpi.d1.pd-z@polizei.sachsen.de zur Verfügung. Auch andere Dienststellen nehmen Hinweise entgegen.
5000 Euro Belohnung gibt es von der Polizei für Hinweise, die zur Ergreifung des Täters führen. (gt).
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