Die Haltung, dass der Zustand des Körpers die Entwicklung des Geistes spiegelt, finde ich äusserst bedenklich.
Er erinnert mich an den populären Spruch "Mens sana in corpore sano" ("Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper"). Gerade in spirituellen od. esoterischen Kreisen ist diese Einstellung enorm verbreitet. Aus dieser Haltung, dass mit dem Geist grundsätzlich alles machbar ist, also auch grenzenlose körperliche Vitalität, entspringen hunderte von Büchern, Foren, und "esoterischem Devotionalienhandel". Denk dich reich, wünsch dich gesund, usw. Von manchen auf die Spitze getrieben mit der Meinung, mit der richtigen geistigen Haltung könne man auch körperlich ewig leben.
Natürlich: der Geist kann einen enormen Einfluss auf die Materie haben. Aber einfach zu sagen: 'Wer körperlich etwas hat, das ihn belastet, das ihm gewisse Dinge erschwert, der hat auch geistig ein Defizit oder irgendwelche blinde Flecken', - das wäre meiner Meinung eine gefährliche Haltung, die schnell in einer Praxis enden kann, die einen Menschen be- oder abwertet, schlimmstenfalls sogar tötet.
Ich sehe bei diesem Satz auch all jene Menschen vor mir, die irgendein körperliches Merkmal aufweisen, mit dem sie aus der Rolle fallen, aber auf geistiger Ebene anderen weit vorraus sind, zumindest auf gewissen Gebieten. Z.B.
Stephen Hawking (Physiker)oder
Helen Keller (Taubblinde Schriftstellerin).
Beide mit einem körperlichen Handicap, die aber geistig was auf dem Kasten haben/hatten.
Nun könnte man differenzieren zwischen versch. körperlichen "Besonderheiten": genetisch, also von Geburt an, durch einen Unfall, oder eine "Krankheit" (komme noch später auf diesen Begriff zurück). Aber spielt das eine Rolle, wenn man davon redet, dass der Körper angeblich 1:1 den Geist wiederspiegelt?
Nehmen wir z.B.
Aron Ralston, der dadurch berühmt wurde, dass er sich selbst in der Wüste die Hand amputiert hat, die er sich eingeklemmt hatte und sonst höchstwahrscheinlich an Ort und Stelle gestorben wäre. Er hat sich also "freiwillig" in gewisser Weise einen körperlichen "Schaden" zugefügt, etwas "entfernt". "Körperlich vollumfänglich vital" würd ich das nicht unbedingt nennen, obwohl er vielleicht selbst mit dem künstlichen Arm heute sportlicher ist, als manch anderer. Fehlt ihm mit dieser Amputation nun etwa auch geistig etwas, wenn doch Körper gleich Geist ist (und umgekehrt)?
Ok. Vielleicht ist hier weder von Genetik noch von Unfällen oder Operationen die Rede. Aber von was dann? Nehmen wir einen Schnupfen oder Grippe. Alltägliche "Krankheiten". Ist derjenige, der das hat (Wohlgemerkt: hat. Nicht: ist.), nun geistig irgendwo "unterentwickelt"?
Was genau soll das eigentlich sein: Krankheit??? Ja ich weiss: im
ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) (Archiv-Version vom 31.12.2012) sind sie alle definiert. Die Definition, was als "krank" oder "gesund" zu betrachten ist, ist aber von Mensch zu Mensch, von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Zeit zu Zeit und Kultur zu Kultur verschieden! So klar, was denn nun genau "krank" ist und was nicht, ist es also keineswegs!
Ich sehe einfach die Gefahr, dass mit der Beurteilung des Aussen auch gleichzeitig eine Be- oder Verurteilung des Innen stattfindet.
Es gibt z.B. auch viele, prominente Menschen, von denen man vermutet oder "weiss", dass sie "krank" waren:
Berühmte psychisch kranke Persönlichkeiten. Waren die alle nun irgendwo "geistig unterentwickelt"?
Buddha starb, so sagt man, an einer Vergiftung. Kann man nun davon auf seinen Geisteszustand schliessen? Jesus wurde gekreuzigt. Auch nur, weil er geistig halt nicht genug entwickelt war????
Warum also "Krankheit", oder Leiden, Schmerz? Wir schwanken in der Suche nach Gründen zwischen einem Aussen und einem Innen: Der da hat mich mit diesem oder jenem angesteckt! - oder - Ich habe das angezogen, weil ich innendrin halt nicht die "richtige Einstellung" hatte. Ich glaube, weder das eine noch das andere hilft uns weiter. Solange wir UR-TEILEN, können wir nicht das Ganze sehen. Und wenn wir nicht das Ganze sehen, was massen wir uns da an, irgendein Urteil zu fällen: dieser ist geistig entwickelt, jener weniger...?