@georgerus @Kybalion7 Kennt ihr die Geschichte von der Taube und dem Geier? Ich weiß nicht ob Bardon und die Hermetik das genauso sieht.
Der Bodhisattva wanderte durch das Land, auf der Suche nach dem, was er nicht wußte. Er ging langsamen Schrittes, in Gedanken versunken, und widmete manchmal seine Neugierde der Natur, die sich in den Farben des unendlichen Weisen prunkvoll gekleidet zeigte.
Plötzlich erblickte er eine Taube, deren Flügelschlag so lahm vor Müdigkeit war, daß sie jeden Augenblick herunterfallen mußte. In einer letzten Anstrengung erreichte sie den Weisen und ließ sich zu seinen Füßen niederfallen.
"Ich flehe dich an, Bodhisattva", stöhnte sie, "rette mich! Ein Geier verfolgt mich seit dem Morgen; ich bin erschöpft, und meine letzte Hoffnung bist du. Sieh, der Geier kommt – er ist da!"
In der Tat näherte sich ein großer schwarzer Vogel dem Weisen, doch auch er flog so ungeschickt, daß er in seiner Erschöpfung gar jämmerlich anzusehen war.
Der Bodhisattva hob die Taube auf , versteckte sie in seinem Gewand und flüsterte ihr zärtlich zu: "Friede kehre in dein Herz ein, kleine Taube. Ich bin der Bodhisattva, ich biete dir die Gastfreundschaft an meiner Brust, und du hast nichts mehr zu befürchten."
Da ließ sich der Geier vor ihm nieder, das Gefieder in Unordnung und sichtlich ermattert.
"Bei den Göttern", murmelte er, "ich kann nicht mehr, nach diesem schrecklichen Jagdvormittag! Bodhisattva, ich habe gesehen, wie du die Taube in deinem Gewand versteckt hast, gib sie mir schnell, denn ich bin am Ende meiner Kraft..."
"Keinesfalls werde ich sie dir geben", antwortete der Weise, "denn ich habe ihr Sicherheit versprochen, und der Bruch der Gastfreundschaft wäre eine schlimme Pflichtvergessenheit."
"Diese Taube gehört dir nicht", widersprach der Geier. "Sie gehört mir. Als du sie aufhobst, war sie am Ende ihrer Kräfte und wäre auf ganz gerechte Weise in meine Gewalt gekommen. Also gib mir mein Eigentum!"
"Unmöglich!"
"Überlege, Bodhisattva: ich bin ein Geier, diese Natur wurde mit von den Göttern gegeben, die mir auch meine Nahrung vorgeschrieben haben. Ich habe die Taube bezwungen. Sie ist die Belohnung meiner Arbeit als Geier, und du mußt sie mir geben."
"Unmöglich", wiederholte der Weise, aber man spürte, daß seine stimme unsicher war. "Ich würde dir gerne gefällig sein, Geier, aber ich kann es nicht um den Preis, den du forderst. Geh wieder auf die Jagd, das ist das Beste, was du machen kannst!"
"Wieder auf die Jagd gehen? Du machst grausame Scherze, Bodhisattva! Siehst du nicht, daß ich unfähig bin zu fliegen? Wenn mich ein Fuchs in diesem Zustand entdeckt, bin ich verloren! Du willst mich zwingen, Hungers zu sterben oder von einem Feind zerfleischt zu werden? Gut, ich werde sterben, aber dieses Verbrechen mußt du vor deinem Gewissen verantworten."
Der Bodhisattva brauchte nicht erst lange nachzudenken, um zu verstehen, daß der Geier recht hatte. Aber auch die Taube hatte recht, wenn sie ihr Leben retten wollte, und er selbst hatte auch recht, ihr die Gastfreundschaft an seiner Brust zu bieten. Konnte er dem Vogel sagen, daß er der gerechte Lohn des Geiers war? Sollte er den Geier seine Beute verschlinge lassen? Sein Herz schmolz vor Mitleid, Liebe und grausamer Ungewißheit.
Die unschuldige Taube opfern? Unmöglich!
Den unschuldigen Geier opfern? Nein!
Es blieb nur eine Lösung, die dem Bodhisattva gleich einer Erleuchtung einfiel.
"Du hast recht, Geier", sagte er, "ich darf die deinen Lohn nicht vorenthalten. Ich werde dir daher von meinem eigenen Fleisch das geben, was dir zu Recht zusteht."
Wie durch ein Wunder erschienen eine Waage und ein Messer vor dem Weisen, der die Taube in eine Waagschale setzte und in die andere ein großes Stück Fleisch von seinem Körper legte. Da sich der Balken auf die Seite des Vogels neigte, fügte der Bodhisattva noch ein Stück von seinem Fleisch hinzu, und noch eines und noch eines... Doch der Balken neigte sich immer auf dieselbe Seite: Kein noch so großes Stück menschlichen Fleisches konnte die zarte Taube aufwiegen. Da stieg der Bodhisattva ganz auf die Waage, und siehe, die Schalen kamen sofort ins Gleichgewicht.
Ein Leben für ein anderes!
Der Geier, der die Szene schweigend beobachtet hatte, schlug mit den Flügeln und verwandelte sich.
"Ich bin der Gott Indra", sprach er, "und ich wollte dich auf die Probe stellen!"
Ein Ambrosiaregen fiel vom Himmel und heilte den Bodhisattva, dem der Gott verkündete, daß er sich in Buddha wiederverkörpern werde.
Dies ist ohne Zweifel eine schöne Liebeslektion, vollkommen und erbaulich: Ein Leben ist ein anderes Leben wert; das Leben eines Eingeweihten gilt nicht mehr als das des Rauchs aus dem Kamin.
Die Liebe zählt nur, wenn sie total ist und sich in gleicher Weise an unseren Bruder, den Geier, an unsere Schwester Erde oder unseren, anderen Bruder, das kleine Sandkorn, wendet...
Das war die Lehre des Eingeweihten Bodhisattva.