@dedux "Glauben wir nur, was wir sehen oder sehen wir nur das, was wir glauben? Ich denke, es hat etwas von Beidem.
Glaube verbindet und Glaube trennt. Diese Aussage gilt nicht nur in religiösen Fragen. Ich will an dieser Stelle nicht das Thema Religion vertiefen, es geht vielmehr um Glaubenssätze jeder Art: Die Erde ist rund, nach Regen folgt Sonnenschein, "die große Liebe", Zucker ist ungesund, man hat nur ein Leben, mein Nachbar ist ein Prolet, mir geht es gut, ich bin zu dick, ich bin ein Looser, mir gehört die Welt, usw ...
Wie kommt es zu diesen Glaubenssätzen? Wie entsteht Glaube?
Ein neugeborenes Kind hat keinen Glauben, sein Verhalten ist rein instinktiv, es geht nur um Selbsterhaltung. Der sich entwickelnde Verstand beginnt jedoch sofort Neues zu lernen. Viele Eindrücke werden gespeichert und im Laufe der Zeit sortiert, zugeordnet, verglichen, bewertet und so verarbeitet.
Kinder beobachten ihre Umwelt und am Anfang besonders ihre Eltern und Geschwister. Sie sind Vorbild, was sie tun wird nachgemacht. Die Muster von Reiz und Reaktion werden ausprobiert, erfolgreiches Verhalten wird beibehalten. "Wenn ich brülle, bekomme ich etwas zu essen, wenn ich dann weiterbrülle, auch eine neue Windel."
Später erfährt das Kind, dass das zunächst erfolgreiche Brüllen irgendwann unerwünscht ist. Es lernt Lob und Kritik kennen. Das Verhaltensrepertoire wird überprüft und verfeinert, entsprechend den Anforderungen des Umfeldes.
So entwickeln sich aus den ersten Erfahrungen die ersten Glaubenssätze, abgeschaut vom Umfeld und für "wahr" gehalten, bis später neue Erkenntnisse dazu führen, dass sie in Frage gestellt werden. Zunächst lebt es sich jedoch gut mit den "gelernten" Wahrheiten.
Ich treffe eine Annahme, die ich später, wenn ich älter bin, wieder aufgreife, und versuche herauszufinden, ob sie wahr ist. Ich tue dies natürlich nicht wissenschaftlich objektiv, sondern werde durch meine Gefühle dabei beeinflusst. Wenn mir diese Annahme nicht gefällt, versuche ich, Beweise zu finden, um sie zu verneinen. Ich ändere meinen Fokus. Meine Wahrnehmung wird gefiltert. Ich blende Unerwünschtes aus und sehe nur noch das Erwünschte. Ich finde so immer mehr Beweise gegen meine erste Annahme. Es entwickelt sich eine Überzeugung.
Von nun an geht die Entwicklung meines Glaubenssatzes in die nächste Runde. Da ich meine Überzeugung bereits für die Wahrheit halte, werde ich schon bei Beginn eines Ereignisses entsprechend reagieren. Bin ich beispielsweise überzeugt, dass man niemandem trauen kann und andere meistens nur darauf warten, mir zu schaden, werde ich immer sehr skeptisch sein, wenn ich jemanden kennen lerne. Diese Skepsis führt dazu, dass ich mit meinem gesamten Körperausdruck in Abwehrhaltung gehe. Der andere wird meine Vorsicht bemerken und mir seinerseits auch nicht recht trauen. Dieses Misstrauen wiederum wird mir bedrohlich erscheinen und meine Abwehrhaltung verstärken. Innerhalb kurzer Zeit werden wir eine feindselige Stimmung erzeugt haben und uns gegenseitig nicht mögen. Am Ende werden wir unsere Überzeugung bestätigt haben – nicht weil der andere wirklich böse ist, sondern weil wir dafür gesorgt haben, dass es so aussieht. Man nennt das "die sich selbst erfüllende Prophezeiung".
Ich handele immer nach meinen Überzeugungen und sorge so dafür, dass das Resultat herauskommt, das ich sowieso erwartet habe. Dieses Verhalten führt zusammen mit der Wahrnehmungsbrille der Gefühle zunehmend dazu, dass ich die Wahrheit meiner Überzeugung nicht mehr bezweifle.
Eventuell werde ich noch, bevor ich diese Überzeugung zu einem Glaubenssatz mache, andere Menschen nach ihrer Meinung fragen. Sind diese der gleichen Meinung, treffe ich die Entscheidung, dass meine Überzeugung die wirkliche Realität ist. Durch diesen Austausch mit anderen Menschen nehme ich leichter Glaubenssätze an, an die auch die anderen glauben.
Auf diese Weise entstehen gesellschaftliche Normen und Umgangsformen und gesellschaftlich anerkannte Wahrheiten. Diese infizieren dann wieder andere Menschen, ähnlich wie Viren. Es wird schwer, sich von einem Glaubenssatz zu lösen, wenn die ganze Gesellschaft daran festhält. Trotzdem sind Glaubenssätze nur akzeptierte Annahmen und keine Wahrheiten.
Was jetzt noch hinzukommt, ist, dass die Glaubenssätze, wie ein Filter, unsere Wahrnehmung beeinflussen, die, wie wir ja schon wissen, unsere Realität gestaltet. Dadurch wird der Glaubenssatz natürlich nochmals bestärkt. Wir erleben ja dadurch permanent Bestätigungen dafür, dass unser Glaube tatsächlich wahr ist.
Ein Glaubenssatz entsteht also nicht nur, weil ich mit meinem Verhalten dafür sorge, dass er bestätigt wird. Die Ereignisse bestätigen ihn, weil unsere Wahrnehmung bedingt durch unseren Glaubenssatz und die dadurch installieren Wahrnehmungsfilter, genau diese Ereignisse erschafft.
Deshalb halten wir immer unsere Glaubenssätze für absolute Wahrheit. Wir glauben, dass wir an unserer Realität sehen können, was richtig ist und was nicht. Wir nehmen sie als Beweis für die Wahrheit, wir streiten uns sogar mit anderen Menschen über diese Wahrheiten. Alle glauben, sie wüssten die Wahrheit, und lassen sich nicht davon überzeugen, dass es nicht so ist. Sie erleben ja auch alle genau das, was sie glauben.
Mit dem, was jemand glaubt und somit in seinen Gedanken hat, erschafft er seine Realität. Das, was noch daneben existiert, wird nicht wahrgenommen, weil es nicht zum Glaubenssatz passt und weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Wer nicht "fest" glaubt oder sich seiner Sache nicht sicher ist, gilt als wetterwendisch und unzuverlässig, das kommt noch erschwerend hinzu.
Abhängig vom Umfeld entwickeln sich bei verschiedenen Menschen unterschiedliche Glaubenssätze. Es kommt zu Gruppenbildung, es entwickelt sich ein "Wir-Gefühl", daraus entsteht: "Wir und die anderen" oder schlimmer: "Wir gegen die anderen", die Basis für Feindschaft und Krieg.
Das ist besonders schädlich bei durchgängig negativen Glaubenssätzen, man sieht dann kein Licht mehr in der Dunkelheit. Der Überstrahlungseffekt wirkt verstärkend und alles ist nur schlecht. Es entsteht dadurch ein Druck, der nach Entladung, nach Erleichterung sucht. Man braucht ein Ventil. Hass auf sich selbst und alle anderen, auf die Welt und die Verhältnisse baut sich auf, so kommt es zu Katastrophen, die immer wieder unsere Nachrichten beherrschen, wenn wieder ein Amokläufer, Attentäter oder Terrorist zugeschlagen hat.
Wie kann man das ändern?
Wir können niemanden ändern, wohl aber uns selbst.
Das Bewusstsein, dass jeder Glaube persönlich zwar als richtig empfunden wird, aber nicht für alle gilt und gelten muss, ist ein Anfang. Toleranz ist der erste Schritt.
Offenheit und das Bewusstsein, dass jede andere Wahrheit auch und in gleicher Weise richtig sein kann, führt zu Akzeptanz. Das ist der nächste Schritt.
Die Einnahme einer breiteren Perspektive, der Blick auf das größere Bild, die größeren Zusammenhänge, erweitert die eigene Wahrheit. Es entsteht mehr Gleichheit als Unterschied.
Die Erkenntnis, dass alles, was anders ist, nur eine andere Facette der Wirklichkeit darstellt und dass alle Facetten erforderlich sind, um ein Gesamtbild zu haben, führt zu Liebe von allem, was ist, auch wenn das anders ist.
Die Furcht vor dem Andersartigen, nicht zu einem selbst gehörenden, entstammt nur einem Mangel an Perspektiven und einem Mangel an Liebe.
Mängel kann man ausgleichen, es gibt dazu immer eine Chance. Wir haben die Wahl. "