Inv3rt schrieb:Da hätten wir ja dann wieder das spontane oder den scheinbar chaotisch wirkenden, erstbewegenden Impuls.
Ich denke nicht, dass es dazu eines äußeren Impulses benötigt hätte. Die spontan entstehenden Systeme, die noch nicht lebendig sind, schaffen hier Grundlagen, indem sie zum einen die Variationsbreite der verfügbaren Moleküle einengen (manche Moleküle entstehen in Durchfluss-Systemen häufiger als andere und reichern sich dadurch an, während andere verdrängt werden), zum anderen dadurch die Variationsbreite der ablaufenden Reaktionen eingeengt wird, da die sich reduzierende Molekülvielfalt auf die Reaktionsnetzwerke rückkoppelt. Dadurch, dass nun aber die verfügbaren Moleküle stetiger und in größerer Zahl entstehen, stabilisieren sich die Reaktionsnetzwerke auf ein Maß, was als Fundament für künftige Entwicklungen dienen kann.
Das heißt, dass solche Systeme permanent in verschiedenen Kompositionen und Variationsbreiten entstehen und wieder zerfallen. Für das Zustandekommen lebender Systeme ist es von Bedeutung, dass einige dieser Systeme nicht komplett zerfallen, sondern auf ein einfacheres Level an Komplexität zurückfallen, auf dem dann wieder neu aufgebaut werden kann. Die Dinge befinden sich somit in einem permanenten Fluss, der entweder ergebnislos versacken und sich totlaufen kann, sobald der Durchstrom zum Erliegen kommt, oder aber als Fundament für gesteigerte Komplexität dienen kann, die dann u. U. in die Entstehung von lebenden Systemen mündet.
Inv3rt schrieb:Gibt es dazu eigentlich in der Biochemie ein aktuell, größtenteils konsensbehaftetes, hypothetisches Konstrukt, um das Problem bei diesem sponanten Übergang identifizieren zu können?
Ich drücke es mal diplomatisch aus: um einen Konsens wird aktuell noch gerungen. Die Gespräche sind konstruktiv, gestalten sich aber schwierig. Die verschiedenen Standpunkte wurden ausgetauscht und zur Sprache gebracht. Man konnte sich auf die Fortsetzung der Gespräche einigen.
;)Inv3rt schrieb:Wo liegen dort nebenbei gefragt die Stolpersteine?
Der Haken ist der Übergang von einer spontanen Bereitstellung geeignet geformter Makromoleküle z.B. über Kristalloberflächen hin zu einer über Makromoleküle selber vermittelten Reproduktion eben dieser Molekülformen, ohne auf Kristalloberflächen o.ä. zurückgreifen zu müssen. Dieses Problem ist noch nicht gelöst.
Inv3rt schrieb:Brechen die synthetischen Laborsysteme an den Vererbungsprozessen ein, womit die Reproduktion nichtmehr gesteuert werden kann?
Die Laborsimulationen gelangen nicht mal in die Nähe einer wie auch immer irgendwie gearteten Reproduktion von Sequenzen. Immerhin hat man neulich herausgefunden, dass RNA mit nichtkanonischen Nucleotiden ein Weg sein könnte, Aminosäuren zu kurzen Peptiden zu verbinden, ohne dabei auf eine mineralische Komponente angewiesen zu sein:
https://www.scinexx.de/news/biowissen/rna-welt-henne-ei-problem-geloest/Allerdings strotzt auch dieser Artikel vor inhaltlichen Fehlern:
Anders als die DNA benötigt diese Form des Erbmoleküls keine Proteine, um sich zu vervielfältigen, sondern fungiert als ihr eigenes Enzym.
Das ist falsch. Es gibt zwar inzwischen einige selbstreplizierende RNA-Strukturen, aber das trifft nicht generell auf alle RNA-Moleküle zu - im Gegenteil: Die Auswahl an selbstreplizierenden RNA-Molekülen ist sehr überschaubar. Der zitierte Satz suggeriert jedoch eine generelle Fähigkeit für RNA-Moleküle, sich ohne enzymatische Hilfe mittels Proteinen vervielfältigen zu können.
Chemische Analysen zeigen, dass es neben den vier für die Proteinkodierung wichtigen RNA-Basen – den Genbuchstaben A, T, G und C – noch weitere, sogenannte nicht-kanonische RNA-Basen gibt.
T ist keine RNA-Base. An dieser Stelle muss ein U für Uracil stehen.
Diese nicht-kanonischen RNA-Nukleoside können bis zum letzten gemeinsamen Vorfahren aller Erbmoleküle zurückverfolgt werden ...
Jetzt ist plötzlich von Nucleosiden die Rede, obwohl im Satz unmittelbar davor noch von Basen die Rede war. Bei Nucleosiden kommt noch der Zuckeranteil zur Base hinzu, so dass aus Uracil nun Uridin wird. Die nichtkanonischen Nucleoside wären dann z.B. Pseudo-Uridin oder Dihydro-Uridin.
In dieser RNA-Peptid-Welt entwickelten sich dann beide Molekülarten weiter und verbesserten ihre Translations- und Replikationsfähigkeiten.
Auch hier wird der übernächste Schritt vor dem nächsten einfach mal behauptet: Die Experimente haben gezeigt, dass nichtkanonische Basen das Zustandekommen von Peptidbindungen begünstigen und darüber hinaus die Aneinanderreihung mehrerer Aminosäuren nacheinander zu einer bis zu 15 Aminosäuren enthaltenen Peptidkette ermöglichen. Das ist für sich genommen zunächst ein interessanter Befund. Allerdings leiten sich daraus weder Replikationsfähigkeiten ab, die dann verbessert werden könnten, noch leitet sich daraus eine Translation ab, bei der es um eine codierte Peptidsynthese geht und nicht um eine Zufalls-Sequenz, wie der experimentelle Befund ist. Folglich haben wir hier eine irreführende Mitteilung.
Letztlich entstand dann irgendwann die komplexe RNA-Maschinerie, durch die bis heute die Proteine in unseren Zellen erzeugt werden – das Ribosom.
Das ist dann die Steigerung der Desinformation, da hier gewissermaßen aus dem Nichts heraus auf das Zustandekommen von Ribosomen hin orakelt wird, welche zwar die Proteinsynthese als "Werkbank" durchführen, aber eben nicht allein, sondern im Zusammenwirken mit mRNA, tRNA und aaRS (eine Klasse von Proteinen, die spezifisch Aminosäuren an tRNA binden!) und ribosomale Proteine, die die RNA-Schlaufen in den Ribosomen in den nötigen Distanzen halten, damit die Peptidbildung überhaupt funktionieren kann.
So etwas ist dann wieder mal sehr ärgerlich ...
Der Originalartikel ist übrigens dieser hier:
https://www.nature.com/articles/s41586-022-04676-3