Inv3rt schrieb:dann müsste Leben theoretisch mehrfach entstanden sein und damit auch eine Schattenbiosphäre existieren
Das ist nicht notwendigerweise die Konsequenz einer mehrmaligen Lebensentstehung. Machen wir mal ein Gedankenexperiment:
Nehmen wir an, es gibt zwei gelungene Ansätze, die zur Entstehung von Leben geführt haben und sich sukzessive auf der Erdoberfläche ausbreiten. Variante A kann sich zügig teilen, ist aber weniger flexibel in der Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Umgebungsbedingungen. Variante B ist zwar flexibler in der Anpassungsfähigkeit (mehr Redundanz in den Stoffwechselzyklen), benötigt aber wegen der größeren Zahl der zu reproduzierenden Moleküle mehr Zeit zur Zellteilung.
Das eine Merkmal gleicht das andere Merkmal hinsichtlich Ausbreitungsgeschwindigkeit aus, so dass sich beide Varianten etwa gleichschnell ausbreiten. Irgendwann treffen beide Varianten aufeinander und konkurrieren um die verfügbaren Ressourcen in einem speziellen Habitat der Kontaktzone.
Möglichkeit 1: Variante A verdrängt Variante B wegen der zügigeren Zellteilung. Variante B stirbt aus.
Möglichkeit 2: Variante B verdrängt Variante A wegen der flexibleren Anpassungsfähigkeit. Variante A stirbt aus.
Möglichkeit 3: Variante A und Variante B entwickeln sich parallel und unabhängig nebeneinander her, ohne sich wechselseitig zu verdrängen. Beide Varianten bleiben erhalten. Szenario der Schattenbiosphäre.
Möglichkeit 4: Es entsteht eine symbiotische Beziehung. Beide Varianten bleiben erhalten.
Möglichkeit 5: Es entsteht eine parasitische Verbindung. Beide Varianten bleiben erhalten.
Möglichkeit 6: Variante A ist das Futter von Variante B. Variante A stirbt aus.
Möglichkeit 7: Variante B ist das Futter von Variante A. Variante B stirbt aus.
Für Möglichkeit 3 können sich noch Varianten bezüglich der Dominanz einer der beiden Varianten ergeben, bei der eine der beiden Varianten auf eine bestimmte Nische zurückgedrängt wird, während die andere Variante alle anderen Nischen besetzt.
Betrachten wir die Möglichkeiten 4 und 5 etwas genauer. Bei einer parasitischen Verbindung wäre der Parasit auf den Wirt angewiesen und würde dem Wirt selber nichts an verwertbarem Nutzen bieten. Wichtig ist hier die Passfähigkeit der Prozesse der jeweiligen Zellen: Die Wirtszelle muss etwas produzieren, mit dem die Parasitenzelle etwas in ihrem Stoffwechsel anfangen kann. Das können z.B. spezifisch geformte Makromoleküle sein, die die Prozesse in der Parasitenzelle effizient am Laufen halten.
Die Übertragung von Parasitenzellen auf neue Wirtszellen, die bislang nicht befallen sind, müsste über den Ausstoß von genetischem Material der Parasitenzelle aus der Wirtszelle erfolgen, was zuvor eine Vervielfältigung des genetischen Materials innerhalb der Wirtszelle erfordert. Da das Material passend für die bislang nicht befallene Wirtszelle sein muss, erfordert das eine für den Eintritt in die Wirtszelle passende Verpackung, um von einer Wirtszelle aufgenommen und in deren Stoffwechselgeschehen integriert werden zu können. Wir sehen hier also Übergänge zur Entstehung von Viren.
Bei einer symbiotischen Beziehung läuft es auf eine Koordinierung der Zellteilungsprozesse hinaus sowie auf eine wechselseitige Bereitstellung von verwertbarem Material und diversen Fähigkeiten, die das symbiotische Gebilde als Ganzes in ihrer Fitness stabilisieren und sukzessive steigern. Die Symbiose führt längerfristig zur Chimärenbildung: Merkmale von Variante A kombinieren sich mit Merkmalen von Variante B zu einem Mosaik, welche nun das Merkmalskomposit der neu entstandenen Variante C bildet.
Voraussetzung für ein Gelingen dieser beiden Möglichkeiten ist eine hinreichende chemische Ähnlichkeit der verwendeten Grundkomponenten. Hinreichend bedeutet hier, dass sich Makromoleküle aus Aminosäuren und aus RNA-Nucleotiden zusammensetzen bzw. aus chemisch nahe verwandten Analogen, die dann im Verlauf späterer Evolution entsprechend chemisch modifiziert werden können, so dass größere chemische Einheitlichkeit entsteht.
Schauen wir uns die heute lebenden Arten dazu etwas genauer an, um festzustellen, ob es solche zu erwartenden Merkmale gibt, die man als Indiz für eine mehrmalige Lebensentstehung interpretieren kann (ohne damit jedoch nachzuweisen, dass es sie einst tatsächlich gegeben hat!):
Heute wird die Lebenswelt in drei Domänen eingeteilt: Archaea, Bacteria, Eucarya
Jede Domäne zeichnet sich durch bestimmte Spezifika aus, über die sie sich von den anderen Domänen unterscheidet. Beginnen wir mit den Membranen: Archaea besitzen Membranen aus verzweigten Isopren-Einheiten, während Bacteria und Eucarya Membranen aus unverzweigten Fettsäuren aufweisen. Auch in den Bindungen an den Glycerolrest finden sich Unterschiede: Bacteria und Eucarya haben Esterbindungen, Archaea haben Etherbindungen.
In den Prozessen der Proteinbiosynthese ähneln sich Archaea und Eucarya stark:
Die zentralen molekularen Prozesse, zum Beispiel Translation und Transkription, sind dagegen denjenigen der Eukaryoten recht ähnlich: Archaeen benutzen ähnliche, aus mehreren Proteinuntereinheiten zusammengesetzte RNA-Polymerasen (Rifampicin- und Streptolydigin-resistent), bei der Translation kommen sehr ähnliche Initiations- und Elongationsfaktoren vor, der Beginn der Transkription wird durch eine sogenannte TATA-Box markiert.
Quelle:
Wikipedia: Archaeen#EigenschaftenIn der Art der Zellteilung und der Art der Ribosomen ähneln Archaea jedoch stark den Bacteria:
Dennoch besitzen sie typisch bakterielle Eigenschaften, z. B. die Zellgröße, das Fehlen eines Zellkerns, die Art der Zellteilung, sie besitzen ein in sich geschlossenes DNA-Molekül, ebenfalls verhältnismäßig einfach aufgebaute Fortbewegungsorgane (Flagellen) und - wie die Bakterien - Ribosomen mit dem Sedimentationskoeffizienten 70S (allerdings sind die archaeellen Ribosomen komplexer in ihrer Struktur).
Die Gene beider Domänen sind in sogenannten Operons organisiert. Archaeen können auch Plasmide tragen, wie beispielsweise ein Archaeon (mit der vorläufigen Bezeichnung Sulfolobus NOB8H2) der Familie Sulfolobaceae [en] im Phylum Crenarchaeota.
Quelle: ebenda.
Nehmen wir das nun zusammen und berücksichtigen den Umstand, dass Eucarya sowohl Merkmale von Bacteria aufweist (Membranen aus Fettsäuren mit Esterbindung) und Merkmale von Archaea (ähnliche RNA-Polymerasen, ähnliche Initiations- und Elongationsfaktoren), lässt sich das als Resultat einer symbiontischen Beziehung zweier ursprünglich getrennt voneinander entstandenen Lebensformen interpretieren.
Der zu erwartende Einwand besteht nun darin, warum die grundlegenden Prozessverläufe und die daran beteiligten Makromoleküle im Grunde gleich sind, so dass man aus dem jetzigen Zustand auf einen letzten gemeinsamen Vorfahr rückschließen kann, der dann die gemeinsame Wurzel allen heutigen Lebens darstellt und somit als Beleg für eine einmalige Lebenstentstehung interpretiert werden kann. In der Tat ist LUCA ein rechnerisches Artefakt.
Wenn wir den Ansatz des Gedankenexperiments verfolgen und annehmen, dass zwei ursprünglich unabhängig voneinander entstandene Lebensformen, die in ihrem Molekularbestand ähnlich (Peptide und RNA-Analoga) und damit hinsichtlich der darüber ermöglichten Prozesse ausreichend kompatibel gewesen sind, um über eine Art von horizontalem Gentransfer eine symbiotische Beziehung aufzubauen, die sich sukzessive zu einem größeren Komplex vernetzt hat, ohne dass es zum Kollaps des Gesamtsystems gekommen ist, dann stellt die heute beobachtbare Einheitlichkeit in den Lebensprozessen das Resultat einer längeren Evolution dar, die aber immer noch erkennbare Relikte einer einstmaligen getrennten Entwicklung übrig gelassen hat.
Ein weiteres Indiz ist das Vorhandensein von zwei getrennten Klassen der Proteine, die im Verlauf der Proteinbiosynthese die Aminosäuren mit einer tRNA verbinden. Auch das kann im Sinne einer Symbiose von zwei zuvor verschiedenen Lebensarten interpretiert werden: Während die eine Variante mit Enzymen operierte, die eine Rossmann-Falte aufwiesen, operierte die andere Variante mit Enzymen, die eine andere Struktur aufwiesen:
Hinsichtlich ihres strukturellen Aufbaus wie nach den Motiven funktioneller Domänen lassen sich grob zwei Klassen von Synthetasen unterscheiden:
I – bei den überwiegend monomeren Klasse I-Enzymen weist die Kerndomäne in der Sekundärstruktur parallele β-Faltblätter in einer Rossmann-Faltung auf sowie zwei Motive für die ATP-Bindung;
hierzu gehören Synthetasen spezifisch für Arg, Cys, Glu, Gln, Ile, Leu, Lys, Met, Trp, Tyr, Val
II – die zumeist dimeren oder multimeren Klasse II-Enzyme haben dagegen in der Kerndomäne gemischte β-Faltblätter sowie drei andere Motive, die an der ATP-Bindung beteiligt sind;
hierzu gehören Synthetasen spezifisch für Ala, Asn, Asp, Gly, His, Lys, Phe, Pro, Ser, Pyl, Thr
Während bei all denen der Klasse I die Aminosäure zunächst mit 2′-OH verestert wird und dann in 3′-O-Aminoacyl umestert, aminoacylieren fast alle der Klasse II gleich in 3′-Position (bis auf eine Ausnahme, PheRS). Beide Klassen werden nach den Bindungsweisen der AaRS an das tRNA-Molekül weiter unterteilt in Unterklassen (a, b und c).
Quelle:
Wikipedia: Aminoacyl-tRNA-Synthetase#EnzymstrukturEin weiteres Indiz ist das Vorliegen von alternativen Belegungen im genetischen Code - insbesondere bei Mitochondrien, die ebenfalls in Symbiose mit Eucarya existieren:
Wikipedia: Genetischer Code#Variantenhttps://www.ncbi.nlm.nih.gov/Taxonomy/Utils/wprintgc.cgi?chapter=tgencodes#SG1Im Sinne des Gedankenexperiments lässt sich ableiten, dass es ursprünglich mehrere voneinander unabhängig entstandene Lebensformen gegeben hat, von denen einige wenige untereinander hinreichend ähnlich und passfähig gewesen sind, so dass sie sich zu komplexeren Chimären entwickeln konnten, welche dann über eine längere Evolution hinweg zu einer Vereinheitlichung der prozessualen Grundstrukturen geführt haben, die die Relikte einstiger Eigenständigkeiten weitgehend verwischt haben.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Damit ist nicht belegt, dass das Leben auf der Erde mehrfach entstanden ist. Damit ist aber aufgezeigt worden, dass eine parallele Lebensentstehung nicht notwendigerweise zu einer Schattenbiosphäre mit komplett anderer Biochemie führen muss. Die "komplett anderen" könnten dann nämlich gemäß Möglichkeiten 1., 2., 6. und 7. von den fitteren Chimären ausgerottet und als Futter verwertet worden sein.