Das Recht auf Türme
von Gehard Schröder
Das Schweizer Bauverbot für Minarette zeigt: Europas Blick auf den Islam ist immer noch geprägt von Angst und Unwissen.
Das Votum der Schweizer für ein Bauverbot von Minaretten hat weltweit zu Irritationen und Empörung geführt. Vordergründig mag es um ein Bauverbot gegangen sein, im Kern jedoch ging es um etwas anderes: Minarette machen die tief greifende Veränderung unserer Gesellschaft durch die Zuwanderung von Menschen aus anderen Kulturkreisen und Religionen deutlich erkennbar. Wer den Bau von Minaretten verbietet, der will, dass diese gesellschaftliche Veränderung nicht sichtbar wird. Er ignoriert die Wirklichkeit und möchte, dass Menschen mit islamischem Glauben weiterhin ihre Religion in Gebetsräumen ausüben, die in Hinterhäusern oder abseits in Industriegebieten versteckt liegen. Dieses Verdrängen an den sprichwörtlichen Rand der Gesellschaft ist der Versuch einer Ausgrenzung.
Wir müssen anerkennen, dass der Islam Teil unserer Gesellschaft wie auch Teil aller europäischen Gesellschaften geworden ist. In Deutschland leben mehr als drei Millionen Menschen, die Anhänger einer islamischen Glaubensrichtung sind. Wir haben sie zum großen Teil vor Jahrzehnten als »Gastarbeiter« in unser Land geholt. Sie und ihre Kinder sind heute Bürger, häufig auch Staatsangehörige unseres Landes mit allen Rechten und Pflichten. Das wurde bis vor wenigen Jahren, genau genommen bis vor elf Jahren, ignoriert. Lange herrschte die Auffassung vor, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Als ich 1998 Bundeskanzler wurde, war es mir wichtig, mit dieser Lebenslüge Schluss zu machen. Deswegen schufen wir ein modernes Zuwanderungsrecht, das die Einwanderung transparent steuert, aber zugleich die Integration fördert. Zudem haben wir das Staatsangehörigkeitsrecht grundlegend geändert, um das Abstammungsprinzip – Deutscher konnte nur sein, wer von Deutschen abstammt – durch das sogenannte Geburtsortsprinzip zu ergänzen. Wer in unserem Land geboren ist, kann die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben. Das waren wichtige erste Schritte.
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Menschen aus anderen Ländern und Kulturen, die bei uns leben und leben wollen, müssen sich klar und unmissverständlich zu unserer Rechtsordnung und unseren demokratischen Spielregeln bekennen. Nicht ohne Grund bezeichnen wir die Werte der Demokratie und der Aufklärung als universelle Werte. Und das sind Werte, die auch diejenigen akzeptieren und verinnerlichen müssen, die aus einer anderen Kultur stammen. Sie sind die Basis unseres Zusammenlebens, und zwar unabhängig von den kulturellen Unterschieden. Aber Integration bedeutet nicht Assimilation. Sie darf nicht bedeuten, kulturelle und religiöse Unterschiede beseitigen zu wollen. Ein solcher Integrationsansatz ist zum Scheitern verurteilt. Es gibt nicht wenige, insbesondere in konservativen Parteien, die genau dies anstreben. Und dazu passt, dass das Bild vom Islam und von den Muslimen in unserem Land negativ geprägt ist. Es wird hauptsächlich über Defizite definiert – etwa über die Betonung von Integrationsproblemen, die Konflikte um das Kopftuchverbot, die seltenen Fälle von Zwangsehen oder aber den Kampf gegen den internationalen Terrorismus, der als religiös motiviert dargestellt wird.
Wir sollten uns jedoch hüten vor Verzerrungen und vorschnellen Verallgemeinerungen. Diese haben in den vergangenen Jahren unsere Vorstellungen von islamischen Gesellschaften und der islamischen Religion leider mehr und mehr geprägt. Allzu leichtfertig, gedankenlos, teilweise auch aus Unwissenheit, werden pauschale Urteile gefällt. Wer sich aber vor Vorurteilen hüten will, der muss bereit sein zu differenzieren. Wir sollten uns vor Augen führen, was das kulturelle Fundament unserer Gesellschaft bildet: der Respekt vor anderen Kulturen, die Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen, die Anerkennung von Vielfalt und Verschiedenartigkeit. Wir dürfen nicht zulassen, dass Fremdes von vornherein als feindlich angesehen wird. Die Anerkennung des anderen als eines Gleichen ist ein kultureller Fortschritt, der unser Land auszeichnet und für den wir überall in der Welt eintreten wollen. Zur Differenzierung gehört Fairness, und die muss unseren Umgang mit jeder Minderheit prägen.
Der Islam ist keineswegs, wie es in der aktuellen Debatte dargestellt wird, ein monolithischer Block. Im Gegenteil: Der Islam ist verschiedenartig, und die islamischen Gesellschaften sind vielfältig. Wir sollten Menschen nicht einzig und allein über ihre Religion definieren. Jeder Mensch handelt im Rahmen seiner gesellschaftlichen Bedingungen, die nicht nur durch die Religion definiert werden, sondern auch durch ökonomische, soziale und politische Faktoren. Das betrifft Muslime ebenso wie Christen, Hindus oder Buddhisten. Wir sollten aufhören, pauschal von »dem Islam« zu sprechen.
Die historische Erfahrung verpflichtet uns zur Toleranz
Ebenso wie es eine Tatsache ist, dass Muslime auf unserem europäischen Kontinent leben, ist es eine Tatsache, dass wir durch den wissenschaftlichen und kulturellen Austausch mit der islamischen Welt seit Jahrhunderten geprägt sind. Im Mittelalter waren es arabische Gelehrte, die der Welt den Schlüssel zur Medizin und Astronomie, zur Chemie und Mathematik, aber eben auch zur Wiederentdeckung der klassischen Philosophie geliefert haben. Die islamische Kultur hat uns architektonische Wunderwerke, großartige Literatur und Musik geschenkt. Dieser Einfluss hat uns kulturell bereichert, ebenso wie die kulturellen Einflüsse des Westens die muslimische Welt verändern. Das »Abendland« hat eben nicht nur christliche und jüdische Wurzeln, sondern auch islamische.
Der Islam ist keine politische Ideologie, sondern eine friedliche Religion. Das lehrt der Koran. Und dies ist der Glaube von mehr als einer Milliarde Menschen, die wie alle Menschen in Frieden, Wohlstand und Sicherheit leben wollen. Der interreligiöse Dialog ist wichtig, um Frieden zu erlangen, denn es gibt in jeder Religion fundamentalistische Minderheiten. Aber wenn wir uns von diesen Minderheiten das gesellschaftliche Zusammenleben definieren lassen, haben wir schon verloren. Und wenn der falsche Vorwurf aufkommt, der Islam sei gewalttätig und kriegerisch, sollten gerade wir Europäer, vor allem wir Deutsche, einen Blick auf unsere Geschichte werfen. Es waren die christlich geprägten Staaten Europas, die im 19. und 20. Jahrhundert andere Länder kolonialisierten, davon nicht wenige mit islamischer Bevölkerung. Und es waren keine islamischen Staaten, die die beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts verbrochen haben. Für Überheblichkeit gegenüber anderen gibt es für uns keinen Grund. Die historische Erfahrung verpflichtet uns zur Toleranz, die nicht zu verwechseln ist mit Gleichgültigkeit oder Beliebigkeit.
Nun wird in der Debatte um den Bau von Moscheen und Minaretten häufig ein Argument ins Feld geführt. Es heißt: »Solange in islamischen Ländern keine Kirchen gebaut werden dürfen, sollen auch bei uns keine Moscheen gebaut werden.« Was dabei vergessen wird: Millionen Christen leben etwa im Libanon, in Ägypten und in Syrien. Aber auch wo christliches Gemeindeleben neu entsteht, wird der Kirchenbau erlaubt, etwa in den aufstrebenden Golfstaaten oder in Indonesien. Defizite bei der Religionsfreiheit in einigen islamischen Staaten sind nicht zu bestreiten, aber sie können nicht als Begründung für eine Einschränkung der Rechte in unserem eigenen Land dienen. Wir verstehen uns als eine aufgeklärte Gesellschaft. Und Aufklärung heißt nicht, Unzulänglichkeiten anderer Gesellschaften bei uns zu wiederholen. Die Religionsfreiheit ist ein hohes Gut, das wir aus guten Gründen im Grundgesetz schützen.
In der Türkei sehen wir eine grundlegende Demokratisierung
Der Begriff der Aufklärung darf nicht zur Abgrenzung benutzt werden. So wird gelegentlich behauptet, christliche Gesellschaften seien aufgeklärt, die islamischen nicht. Hier ist dringend Differenzierung angezeigt, statt sich selbstgerecht über Andere zu erheben. Aufklärung gibt es selbstverständlich auch im Islam. In unseren europäischen Gesellschaften leben Millionen aufgeklärter Muslime, die unsere Grundwerte teilen und vollkommen integriert sind. Sie sind erfolgreich im Beruf, etwa als Juristen, Ingenieure, Wissenschaftler und Unternehmer. Deutsche Muslime dienen und kämpfen in der Bundeswehr, sind hervorragende Sportler und engagieren sich ehrenamtlich in Vereinen. Sie sind also, auch wenn das gelegentlich bestritten wird, »hochproduktiv«. Zu einer aufgeklärten Gesellschaft gehört es, den Erfolg dieser Menschen anzuerkennen, und zwar unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund. Die Bezeichnung »muslimisch« wird ja nicht selten dazu benutzt, um jemanden auszugrenzen. Nach der eher peinlichen Auseinandersetzung um die Verleihung des Hessischen Kulturpreises an den Schriftsteller Navid Kermani hat dieser in einer bemerkenswerten Rede Folgendes gesagt: »Ja, ich bin Muslim, und ja, ich bin Schriftsteller. Aber ich bin kein muslimischer Schriftsteller… Ich bin ein deutscher Schriftsteller.« Und damit hat er vollkommen recht. Wir bezeichnen Günter Grass ja auch nicht als einen »christlichen Nobelpreisträger«.
Nicht nur unser Bild von den Muslimen in unserem Land muss sich ändern, sondern auch unser Bild von den islamischen Staaten, die sich von West- über Nordafrika, den Nahen und Mittleren Osten bis hin nach Südostasien erstrecken. Es sind rückständige wie fortschrittliche Länder, autoritäre wie demokratische Systeme, erfolglose wie erfolgreiche Volkswirtschaften.
Und wenn wir sie so klassifizieren, dann unterscheiden sie sich darin nicht von anderen Ländern mit anderen religiösen Hintergründen. Während meiner Amtszeit und danach habe ich auf zahlreichen Reisen viele Verbindungen in die islamischen Länder aufgebaut. Und mich haben Persönlichkeiten wie der ehemalige iranische Reformpräsident Chatami, der türkische Ministerpräsident Erdoğan oder die Mitglieder der Herrscherfamilie von Abu Dhabi beeindruckt. Sie, wie viele andere auch, setzen sich für eine Modernisierung ihrer Gesellschaften ein, politisch wie wirtschaftlich.
Und wenn wir insbesondere die Türkei betrachten, dann können wir auch dort den Erfolg des Modernisierungsprozesses sehen. Das hat fast ausschließlich mit der Politik von Ministerpräsident Erdoğan und dem EU-Beitrittsprozess des Landes zu tun. Die Türkei hat sich unter Erdoğans Führung in einem Maße verändert und modernisiert, wie es sich vor zehn Jahren noch niemand in seinen kühnsten Träumen hat vorstellen können. Wir sehen eine grundlegende Demokratisierung des Landes. Und die Schritte, die aktuell getan werden, haben durchaus historischen Charakter. Denn mit der Anerkennung der kurdischen Minderheit wird der Versuch gemacht, einen lang andauernden blutigen Konflikt friedlich zu beenden und dauerhaft zu lösen. Von ähnlich großer innen- und außenpolitischer Bedeutung ist der Verständigungsprozess, der mit dem christlichen Armenien begonnen wurde. Dieser Versöhnungsprozess eröffnet endlich eine Perspektive, um die konfliktreiche Kaukasusregion zu befrieden. Die Europäische Union sowie die internationale Staatengemeinschaft sind gut beraten, diese beiden politischen Entscheidungen, aber vor allem die damit verbundene Entwicklung zu unterstützen. Die Aussöhnung mit Armenien fügt sich in ein außenpolitisches Konzept der Türkei ein, das auf Stabilität und Frieden in der ganzen Region bedacht ist. Die Türkei als Brücke zwischen Europa und dem Nahen und Mittleren Osten – dies kann in seiner Wirkung nicht hoch genug eingeschätzt werden und ist in unserem europäischen Interesse. Deswegen ist ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union von großer sicherheitspolitischer Bedeutung für unseren ganzen Kontinent.
Ein veränderter Blick auf die islamische Welt sowie ein veränderter Blick auf die Muslime, die in unserem Land und in Europa leben, sind dringend notwendig. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der sich alle Kräfte in unserem Land stellen müssen – Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien. Gerade die Medien sind aufgerufen, differenziert und fair zu berichten. Aber den größten Beitrag zur Integration kann jeder Einzelne leisten. Warum nicht seinen muslimischen Nachbarn, Kollegen oder Vereinskameraden einmal zu sich einladen? Nur wenn wir einander begegnen und gegenseitiges Interesse entwickeln, wächst das Verständnis. Das Zusammenleben in multikulturellen Gesellschaften kann nicht konfliktfrei sein. Es braucht auch nicht konfliktfrei zu sein, aber wesentlich ist, dass diese Konflikte friedlich und im Dialog gelöst werden. Es geht nicht um einen Kampf der Kulturen, sondern um einen Kampf um die Kultur. Dabei brauchen wir weder vor Kirchtürmen noch vor Minaretten Angst zu haben.
http://www.zeit.de/2009/51/Religionsfreiheit?page=all