Guter Gott - Böser Gott
19.07.2009 um 22:34
Götter aus göttlichem Schoß
Vier Elemente beherrschen das Leben in Mesopotamien:
der endlose Himmel, der stürmische Wind, die fruchtbare Erde, das tosende Wasser. Dem gläubigen Sumerer stellen sie sich in der Gestalt mächtiger Götter dar. An ist der Gott des Himmels, Enlil der Herr des Windes, Uras oder Ki die Erdgöttin, aus der später Nintu und schließlich Inanna, die Göttin der Liebe und der Fruchtbarkeit, wird. Das Wasser als Ursprung des Lebens verkörpert Enki, den sie auch den "Herrn der Erde" nennen. Dies sind vier Götter unter Hunderten, doch sie sind die wichtigsten. Im Lauf der Jahrhunderte verändern sich ihre Namen vom Sumerischen zum Akkadischen, ihre zentrale Position und ihre für das ganze Land bedeutungsvollen Funktionen aber bleiben die gleichen. Sie begegnen uns selbst noch im babylonisch-assyrischen Pantheon. Die Menschen erkannten ihre Macht, sahen, daß sie Herren des Schicksals waren, und flehten um Hilfe zu ihnen. Sie brachten ihnen Opfer, ohne zu wissen, ob sie angenommen wurden. Die Vorstellung, daß die Götter von Anfang an die Welt beherrschten, verstärkte gleichzeitig den Glauben daran, daß ihre Macht unberechenbar sei.
Fünfzehn Götterpaare zählt der sumerische Schöpfungsmythos vor An, beginnend mit Abzu "dem Zeuger" und Tiamat, "die sie alle gebar". Abzu, der sumerische Urgott, ist identisch mit dem Süßwasserozean, über dem die Muttergöttin Nammu auf Enkis Rat die Menschen geschaffen hat. So dürfen wir ihn als den Ursprung allen göttlichen und menschlichen Lebens begreifen. Ihre Vorstellung von ihm und seinem Wirken leiteten die Sumerer, vielleicht auch schon die vor ihnen in Südmesopotamien siedelnden Völker, direkt von den Gegebenheiten des Landes mit seinen Tümpeln, Teichen und Seen und seinem dicht unter der Erdoberfläche liegenden Grundwasserspiegel her. Denn es ist ja die vegetative Kraft des Süßwassers, die alle Fruchtbarkeit und damit alles Leben hervorbringt und erhält.
Abzu ist nie als personifizierter Gott in Erscheinung getreten. Er gilt als der abgrundtiefe, unerreichbare, verborgene Ort, "dessen Inneres selbst die Götter nicht schauen". Über ihm thront als sein Sachwalter und Bewahrer Enki, der auch als Gott der Weisheit verehrt wird. Wie diese Eigenschaft mit seiner Neigung zum Alkohol und seiner erotischen Anfälligkeit samt ihren schlimmen Folgen in Einklang gebracht werden konnte, geht nirgendwo aus den alten Texten hervor. Vermutlich verbot es die trotz allem vorhandene Ehrfurcht, sich kritisch darüber zu äußern. Außerdem mögen es auch diese menschlichen Zuge an Enki gewesen sein, die ihn der Bevölkerung Mesopotamiens nahebrachten und sympathisch erscheinen ließen.
Tiamat heißt akkadisch das Meer. Die Göttin, "die sie alle gebar", ist also identisch mit dem Ozean, der zugleich als die Grenze der Menschenwelt begriffen wird. An seinen Küsten treibt man zwar Schiffahrt, seine Weiten aber sind grenzenlos. Man kann sie nur in Gestalt einer Gottheit erfassen. Und diese Gottheit des Unendlichen, zugleich Gottheit des Uranfangs, ist Tiamat. Aus ihrer Verbindung mit Abzu, akkadisch Apsu, ist nach ak-kadischer, also semitischer Überlieferung alles Leben entstanden.
Der akkadische Mythos deutet den Ursprung des Lebens als Vereinigung von Fluß und Ozean, von Süßwasser und Salzwasser. Mit dieser Auffassung befinden sich die Me-sopotamier des dritten vorchristlichen Jahrtausends bereits auf den Spuren der modernen Naturwissenschaft, die das Wasser gleichfalls als den Ursprung des Lebens begreift. Ob diese Vorstellung auf sumerische Glaubensvorstellung zurückgeht, läßt sich nach dem heutigen Stand der Keilschriftentzifferung nicht entscheiden, wäre aber durchaus denkbar.
Noch im Weltschöpfungsmythos der Babylonier, dem berühmten Enuma elish, ist das Wissen um Apsu und Tiamat lebendig.
Dort heißt es, erstaunlich ähnlich dem biblischen Text der Genesis, in der Übersetzung von Landsberger:
"Als droben der Himmel (noch) nicht benannt war, drunten die Feste noch nicht geheißen, Apsu (das Chaoswasser), der allererste, der sie erzeugte, (und) die Urform Tiamat (Chaos), die sie alle gebären ließ, ihre Wasser zusammen sich mischten, als von den Göttern (noch) nicht einer entstanden war, keiner mit Namen gerufen, Schicksale nicht bestimmt waren, da wurden die Götter gebildet, da entstanden zuerst Lachmu und Lachamu."
Hier wird deutlich, daß der Ursprung im Wasser gesehen und die Wasser ihrer schöpferischen Kräfte wegen mit göttlichen Namen bedacht werden. Lachmu und La-chamu sind nach dieser Version des Weltschöpfungsmythos das erste geschaffene, nicht uranfängliche Götter-paar. Doch sie haben nie eine wichtige Rolle'ge'spielt. Die sumerische Überlieferung kennt sie als Lahmu und La-hama, die als Wasserdämonen dienstbare Geister des Enki sind. Der akkadische Mythos vervielfacht sie später, unter dem Namen Lahmu erscheinen fünfzig halb fisch-gestaltige Götterwesen, wohl Vorgänger unserer Nixen, in Eas Süßwasserozean. So belebt sich die göttliche Szene bereits, noch ehe die Entscheidung über Vorrang und Machtpositionen gefallen ist.
Göttergenerationen
Unser Wissen über die Geschlechterfolge sumerischer und akkadischer Götter verdanken wir den Götterlisten, deren älteste etwa um 2600 v.Chr. in Schuruppak, auf halbem Weg zwischen Uruk und Nippur, entstanden ist. Sie beginnt mit den großen, uns aus vielen Keilschriftdokumenten bekannten Göttern An, Enlil, Inanna, Enki, Nanna und Utu. Hier werden bereits Gilgamesch und Lugalbanda, frühe legendäre Könige von Uruk, als ver-göttlichte Herrscher genannt. Die Namen der Urgötter dagegen suchen wir in diesen sumerischen Dokumenten vergebens. Sie erscheinen erst wesentlich später in einer altbabylonischen Liste unbekannter Herkunft, die nicht nur die fünfzehn Urgötterpaare nennt, sondern auch das spatere Pantheon um den Himmelsgott An ganz bedeutend ausweitet. Niemand konnte bis heute feststellen, ob diese Liste auf bisher unentdeckte ältere Quellen zurückgeht oder ob sie das Produkt einer götterzeugenden Priester- und Autorenphantasie ist, die zu den überdimensionalen Tempelformen der Spätzeit auch eine ungeheure Götterfülle wünschte und schuf. Die Liste ist auf An und Enlil hin konzipiert. So werden neben An fünf Paare von Unterweltsgöttern als Eltern Enlils bezeichnet. Dabei ist nicht eindeutig festzustellen, ob es sich um Generationen vor Enlil oder um Varianten des gleichen Elternpaares handelt. Einige der frühen Götterpaare spielen in der Dämonenbeschwörung eine Rolle. Hier tauchen auch die Me, die "hundert göttlichen Kräfte", wohl als Kräfte der Dämonenabwehr, zum erstenmal auf. Sie sind mit dem Gott Enmesarra, dem "Herrn aller Me", verbunden, der mit seiner Frau, der Göttin Ninmesarra, zu den Vorfahren Ans und Enlils zählt, denen er nach einer Beschwörungsformel aus assyrischer Zeit "Zepter und Herrschaft übergeben hat".
Niemand vermag zu sagen, ob hier ein einst mächtiger Gott freiwillig abtrat, oder ob er unter dem Druck nachfolgender stärkerer Götter aus dem Bewußtsein der Gläubigen weichen mußte. Der Text gibt darüber keine Auskunft, und es ist schwierig, die Zeit, Rolle und Bedeutung einzelner Götter konkret zu fassen. Der Götterreigen und die Heraufkunft immer neuer Götter sind für die sumerische und akkadische Zeit charakteristisch. Die Dynamik mesopotamischen Lebens spiegelt sich auch im Kommen und Gehen der Götter wider. Erst in babylonischer Zeit erstarrt diese Bewegung, es triumphiert ein neuer Gott, Marduk, der Herr von Babylon. Seine Rolle als oberster und einziger Gott dokumentiert der Mythos durch die Legende vom Ende des Anfangs.
Marduk besiegt die alten Götter, erschlägt die Urmutter Tiamat und formt aus ihr seine Welt - Babylon. Das geschieht zu einer Zeit, da die Sumerer schon fast vergessen und nur noch durch ihre Sprache gegenwärtig sind. Ihre Götter, so schemenhaft sie im Gedächtnis der Menschen auch überleben mochten, erschienen den Priestern Mar-duks jedoch noch so lebendig und gefährlich, daß sie durch eine gewaltige Tat' ihres Gottes endgültig vernichtet werden mußten.
Mit den sumerischen Städten wuchsen Macht und Ansehen der Götter. Enlil, der Gott von Nippur, und Enki, der Gott von Eridu, wurden zugleich einflußreiche und geachtete, aber auch gefürchtete Götter des ganzen Landes. Neben ihnen existierten lokale Stadtgötter mit begrenztem Einfluß. Ihre Bedeutung konnte unversehens zunehmen, wenn die Stadt, die sie schützten, durch politische oder militärische Erfolge zur Herrin eines größeren Gebietes wurde und sich weitere Städte und deren Gottheiten untenan machte. Der Aufstieg Marduks zum Reichsgott von Babylon ging nicht anders vor sich.
Gott und Stadt waren völlig voneinander abhängig. Daß man den Untergang besiegter Städte dem siegreichen Gott zuschreibt, geht wohl auf die geschickte Strategie der Priester und später der Fürsten zurück, die sich auf diese Weise selbst entlasteten. Andrerseits war es verständlich, daß mächtige Städte auch den Kult wichtiger Götter an sich zogen. So wurde der Himmelsgott An, dessen Keilschriftzeichen mit dem Zeichen für Gott identisch ist, vor allem in Uruk verehrt. Hier errichtete man ihm einen riesigen Tempel mit Hochterrasse, der typischen sumerischen Zikkurrat, der im Winter 1930/31 vonFranzis Jordan entdeckt und 1935 bis 1938 von Ernst Heinrich eingehend untersucht wurde. Es handelt sich hier mit Sicherheit um eine der ältesten und zu ihrer Zeit wohl die bedeutendste Zikkurrat Mesopotamiens überhaupt. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich, da An als Himmelsgott zwar in su-merischer Zeit das Oberhaupt des Pantheons darstellt, aber längst nicht die Beachtung und Verehrung gefunden hat wie sein Sohn Enlil oder gar wie Enki, den nicht zuletzt seine Abenteuer zur populärsten Gottheit Mesopotamiens werden ließen.
An verkörpert für den Sumerer die Unendlichkeit des Himmels. Er ist von den Menschen weit entfernt und hat zu ihnen ein eher bedrohliches Verhältnis. Er gilt als der Schöpfer der Sebettu - sieben böser Dämonen - und als der Auftraggeber der Todesgöttin Mamitu. Erfordert den Tod des legendären Königs von Uruk, Gilgamesch, und gibt zu diesem Zweck den Himmelsstier Guanna -wahrscheinlich eine vorsumerische Gottheit - frei, der, einem Wunsch der Göttin Inanna entsprechend, Uruks König töten und das Land um Uruk verwüsten soll. Inanna, eines der zahlreichen Kinder Ans, zu denen auch der für Mesopotamien so wichtige Wettergott Iskur zählt, gewinnt nicht nur Ans Unterstützung für ihre ehrgeizigen Pläne, durch die sie zur Herrin Uruks wird, sondern erlangt schließlich auch den Platz an seiner Seite. Die Tochter des Himmelsgottes verdrängt so die Göttin Ki oder Uras und wird ungeachtet der Blutschande Gattin des An. Doch für die Götter gelten menschliche Moralgesetze nur bedingt und für den Himmelsfürsten schon gar nicht. Er ist der Unerreichbare, Unkritisierbare. Das kommt nirgendwo deutlicher zum Ausdruck als in der Ansprache der Götter an ihn, ihren Herrn und Meister, aus Anlaß der in Götterkreisen sicher nicht gern gesehenen und wohl kaum mit Begeisterung aufgenommenen Erhebung Inannas an seine Seite. Da heißt es:
"Was Du gesagt hast, wird wahr!
Des Herrschers und des Herren Rede ist
Was Du geheißen, was Dir gefällt.
0 An! Dem erhabenes Gebot geht vor,
Wer könnte es verneinen?
0 Göttervater, Dein Gebot,
Des Himmels und der Erde Fundament,
Wer von uns Göttern könnte es verlachen?"
Hier kommt deutlich zum Ausdruck, daß die Götter in An ihren absoluten Herrscher sehen, gegen dessen Willen es keinen Widerspruch, kein Aufbegehren gibt. So lesen wir noch in einem späten akkadischen Text:
"Den Verlautbarungen Deines geheiligten Mundes Lauschen voll Aufmerksamkeit die großen Götter, Furchtsam wandeln die Stadtgötter vor Dir, Sturmschwankem Schilfrohr gleich, Beugen sie sich alle Deinem Gebot."
Der Unterschied zwischen dem sumerischen und dem biblischen Paradies besteht darin, daß die Einwohner von Tilmun Götter sind, Götter allerdings, die den gleichen Versuchungen ausgesetzt sind wie die Menschen der Bibel. Kann man doch in Enkis Verlangen nach dem Genuß der von der Göttin Ninhursanga geschaffenen heiligen Krauter eine Art Parallele zur menschlichen Sehnsucht nach dem Apfel vom Baum der Erkenntnis sehen. Bei den schwierigen Lebensbedingungen in Südmesopotamien konnte man die Vorstellung vom Paradies nur mit Göttern verbinden. Doch die Sehnsucht danach beherrschte zweifellos auch die Menschen. Entstammen doch die in den Paradiesesdichtungen entwickelten Ideen der Phantasie ihrer Schöpfer und priesterlichen Interpreten. Ihr Glaube veranlaßte sie, den Göttern den schöneren Teil des Lebens zuzuschreiben, vielleicht war es auch die Folge der klugen Einsicht, daß nur das Bild einer besseren oder zu verbessernden Welt die Menschen zu großen Leistungen anspornen konnte.