Doketismus
20.04.2021 um 18:09
Platons Dualismus ist was völlig anderes als der gnostische Dualismus. Die Materie ist wertfrei, sie ist einfach nur das Material. Im Gegenteil offenbart sich in der Schöpfung, in der ganzen Welt, die Fülle, das Pleroma. Doch existiert diese Fülle in der Vielfalt der Einzeldinge, nicht in einer Einheit. Diese Einheit aber ist das eigentliche Vollkommene. Hier spielt die Vorstellung von der Emanation und den Hypostasen eine Rolle.
Aus der Einheit emaniert die Vielfalt, und zwar über verschiedene, absteigende Stufen (Hypostasen). Jede niedrigere Stufe ist geringer, sie ist nicht mehr so umfassend, dafür aber vielgestaltiger. War quasi in der obersten Stufe, dem Pleroma, noch alles vereint, so umfaßt jede niedrigere Stufe nur noch einen kleineren Teil dieser Fülle, aber alle Elemente einer Stufe besitzen dennoch in ihrer Gesamtheit die Fülle. Als Einzelnes jedoch sind sie begrenzt. Am untersten Ende, in der Welt, gibt es dann praktisch nur noch Einzelheiten, "Individuen", mit einem äußerst begrenzten Anteil an der Fülle. Dennoch ist auch hier die Gesamtheit wieder allumfassend.
Dies ist kein Dualismus zweier entgegengesetzter Sphären, sondern vielmehr ein Spektrum von Möglichkeiten mit zwei Polen, der vollen Einheit und der vollen Vereinzelung. Die Pole stehen auch nicht wie "Gut und Böse" einander gegenüber. Alles ist gut. Aber am unteren Ende ist alles eben "mangelhaft", weil es nur noch einzelne Elemente des Pleromas besitzt, die allermeisten anderen aber nicht hat. Der Kosmos ist nicht schlecht, er ist trotz der gesamten Fülle mangelhaft.
Auch die Wesenheiten sind solche Emanationen. So auch der Demiurg, der Schöpfer. Er ist ein guter, und er verhilft den vollkommenen Ideen zu einer Umsetzung in der Schöpfung, er läßt die Emanationen quasi Form gewinnen. Letztlich ist die Schöpfung kein konkreter Akt, sondern ein zeitloses Geschehen des Emanierens von oben nach unten. Ein ständiges Schattenwerfen der Ideen an Platos Höhlenwand.
In der Gnosis wurde diese Vorstellung in platonscher Philosophie aufgegriffen und mit der jüdisch-christlichen Schöpfungsvorstellung verbunden. Hier nun aber ergab sich ein Problem. Beim Emanieren hat alles einen Anteil am Pleroma, aus dem es ja ausgetreten ist. Aber beim materialen Erschaffen fehlt diese Verbindung nach oben als Quelle. So gießt in der Gnosis der Demiurg das, was von oben her ausfließt, nicht in eine Form und bildet so nur, sondern er erschafft wirklich, er nimmt Materie und stellt daraus etwas her. Die Ähnlichkeit mit den "oberen Dingen" ist nur Nachahmung, nicht mehr Ausformung des von oben Heruntergekommenen. So sieht der Demiurg Jaldabaoth den "himmlischen Menschen", eine Emanation, und erschafft aus Materie den Menschen, um diesen nachzubilden. Es ist nur noch Kopie, nicht der "echte" Schatten an der Höhlenwand. Allenfalls ein "Scherenschnitt", angefertigt nach der Vorlage des Schattens. Daher kann in Schöpfung nicht mehr etwas Emaniertes drin stecken. Hier ist ein echter, unüberbrückbarer Gegensatz erreicht. Alles, was emaniert ist, trägt das Pleroma in sich (und könnte da zurück), aber alles, was nur nach dem Vorbild geschaffen wurde, hat keine Verbindung zum Pleroma, trägt nichts davon in sich. Deswegen taugt der von Jaldabaot erschaffene Mensch auch nichts. Jaldabaot ist selbst emaniert, trägt also in sich ein (wegen vieler Emanationsschritte nur kleines) Stück des Pleromas in sich. Dies muß er nehmen und dem Menschen ein"hauchen", damit dieser erst richtig fertig wird. Und so gibt es eben auch Menschen, die ein echtes Stück vom Göttlichen in sich tragen (Pneumatiker), sodaß diese die Fähigkeit besitzen und nie verlieren können, dereinst ins Pleroma zurückzukehren.
Nicht der Platonismus ist gnostisch, und er ist nicht in der Weise dualistisch wie die Gnosis. Vielmehr hat die Gnosis den Platonismus aufgegriffen und mit jüdisch-christlicher Mythologie verbunden und so einen "feindlichen" Dualismus von Geist und Materie hervorgebracht, wie ihn der Platonismus gar nicht denken konnte. Und so benötigt denn auch die Gnosis diese Erkenntnis um das Stück Emanation im Menschen, um aus der Materie ausbrechen zu können. Im Platonismus ist Materie nicht schlecht, muß niemand ausbrechen (keine "Erlösung" nötig), und ist die Anbindung an das Pleroma oben bei allen und allem gegeben. Und auch die Gnosis / Erkenntnis spielt beim Platonismus keine Rolle. Es ist egal, ob die Hypostase um ihre Emanation weiß, das Geschöpf seinen Schöpfer kennt. Bei der Gnosis aber ist diese Erkenntnis total wesentlich und unverzichtbar.
Gerade durch diese Unterscheidung einer Erschaffung, die nicht über Emanation abläuft, mußte alles Erschaffene zu etwas Schlechtem werden, daher mußte auch der gute Demiurg zu einer negativen Figur werden. Und damit mußte auch der jüdisch-christliche Schöpfergott zu einem Widergott werden, der nicht mehr "dem Einen" entspricht.
Die Gnosis hat hier kräftig vom Platonismus übernommen, ist selbst aber keine platonistische Spielart. Ungefähr so wenig wie heutige Esoterik, die von "Quanten", "Schmetterlingseffekt" usw. spricht, deswegen ne Art Quantenphysik oder Chaosforschung wäre.