@all Man soll nicht über den Krieg reden, wenn man nicht an der Schlacht teilnimmt
;)Zum "Massaker in Merdîn"(Mardin)
Ein interessantes Interview mit Werner Schiffauer
"Massaker in der Türkei: Von wegen Familienfehde"
Eine Familienfehde, wie es auch die türkische Regierung behauptet? Oder ging es doch um etwas anderes?Im stern.de-Interview bezweifelt Türkei-Experte Werner Schiffauer die offizielle Erklärung - er hält eine Rivalität zwischen Paramilitärs für wahrscheinlicher.
Herr Schiffauer, der Hintergrund für das Massaker in der Türkei soll eine angebliche Blutfehde zwischen den Familien sein. Manche Medien sprechen von einem "Ehrenmassenmord".
Könnte das eine Erklärung für diese unfassbare Tat sein?Ich glaube nicht. Dieses Blutbad entspricht überhaupt nicht dem üblichen Schema von Familienfehden. Wenn wegen verletzter Ehre Vergeltung geübt werden soll, dann beschränkt sich die Tat normalerweise auf einzelne Personen.
Welche Erklärung haben Sie stattdessen?Für mich sieht das nach einer Rivalität unter paramilitärischen Einheiten aus. Ein Streit um die Braut mag eine Rolle gespielt haben, stand aber sicherlich nicht im Mittelpunkt. Es ging wohl eher um einen Machtkampf zwischen Clans.
In der Region bekämpfen sich solche Gruppen?Ja, das bringt das System der Dorfmilizen mit sich. Die Türkei hat dort seit den 1980er Jahren paramilitärische Gruppen aufgebaut. Wenn man Clans bewaffnet, dann tendieren sie dazu, mafiöse Strukturen aufzubauen und ihre Macht zu missbrauchen. Sie üben Terror aus, unterdrücken Minderheiten, verschaffen sich mit Waffengewalt auch materielle Vorteile. Es kommt zu einer generellen Verrohung. Ähnliches können wir im Irak oder in Afghanistan beobachten. Solche Milizen sind nicht kontrollierbar - wie man jetzt ein weiteres Mal gesehen hat.
Gab es in der Vergangenheit bereits ähnliche Vorfälle?Vorfälle dieser Art wurden aus dem Bürgerkrieg in Ostanatolien bekannt. Wir bekommen davon nur wenig mit. Einerseits werden die Überfälle als angebliche Schläge gegen die PKK, die verbotene Kurdische Arbeiterpartei, getarnt. Andererseits erklärt das Militär die Region oft zum Notstandsgebiet und verhängt eine Nachrichtensperre.
Aber es gibt doch tatsächlich einen Kampf gegen die PKK.
Das stimmt, und die PKK ist auch nicht zimperlich. Einige Dörfer geraten zwischen die Fronten. So leidet die Bevölkerung sowohl unter ethnisch bedingtem Terrorismus wie auch unter staatlich gestütztem Terror durch die Milizen. Dort hat der türkische Staat das Gewaltmonopol aufgegeben - eine Katastrophe.
Versucht die türkische Regierung nun, davon abzulenken - indem sie den Anschein erweckt, es ging bei dem Massaker um eine Familienfehde?Das ist mein Eindruck. Mit Spannung verfolge ich die unterschiedlichen Stimmen in der Presse. Während der Gouverneur der Region das Problem der Dorfmilizen anspricht, verliert die Regierung in Ankara kein Wort darüber. Erdogan, der türkische Ministerpräsident, spricht nur von den "schrecklichen Traditionen" und dass man die Bevölkerung umerziehen müsste. Das Problem wird mit "Kultur" erklärt und darüber entpolitsiert. Und das bedient auch wunderbar die Vorurteile, die wir im Westen haben und die auch im Rest der Türkei vorherrschen. Aber was dort wirklich los ist, wird so verschleiert.
Haben Sie trotzdem die Hoffnung, dass nun ein Umdenken einsetzt und der Staat die Milizen wieder entwaffnet?Das kommt darauf an, ob das türkische Militär seine Strategie ändern will. Die Regierung in der Türkei hat darauf relativ wenig Einfluss. Das Militär trifft solche Entscheidungen komplett autonom. Selbst wenn Erdogan wollte - einen Konflikt mit dem Militär kann er sich nicht leisten.
Interview: Sönke Wiese
stern.de Artikel vom 07. Mai 2009