Dem Massaker in der Türkei folgt die DebatteEs war das größte und grausamste Massaker der neueren türkischen Geschichte: 44 Menschen starben, als maskierte Angreifer in einem Dorf namens Bilge eine Verlobungsfeier stürmten.
Mittlerweile kommen immer mehr Details zutage. Sie zeichnen die Ursachen für das Blutbad nach - und lösen eine gesellschaftliche Debatte aus.
Nun weiß man, dass unter den Opfern auch drei schwangere Frauen waren, und dass der jüngste der bislang zehn festgenommenen Tatverdächtigen gerade einmal 14 Jahre alt ist, wie die Nachrichtenagentur Anadolu meldet.
Der Tat zugrunde liegt offenbar ein Streit zwischen Teilen des Clans der Celebi sowie ein seit 20 Jahren bestehender Streit zwischen diesem und dem Clan der Ari. Es ging um zwei Fischteiche oberhalb des Dorfes. Der mit den Aris verfeindete Teil des Celebi-Clans war erzürnt, als ein Verwandter aus einem anderen Zweig der Familie seine Tochter Sevgi ausgerechnet einem Mann der Aris zur Frau geben wollte. Nun wurde Druck ausgeübt, Sevgi einem Celebi-Cousin zu geben - also ein Versuch, wegen eines Geschäftsstreits eine Zwangsehe herbeizuführen.
Aber warum die ganze Familie ausrotten? Kaltblütig töteten die Täter jeden, den sie konnten - es gab kaum Verletzte.
Der Grund war eine andere Tradition - die Blutfehde. Die Zeitung "Hürriyet" zitierte aus dem Verhör eines der Tatverdächtigen, Abdulkadir Celebi: "Wenn wir nicht alle umbringen, auch die Frauen und Kinder, dann könnten sie versuchen, Rache zu nehmen wegen der Blutschuld."
Nun beginnt eine Debatte über archaische Traditionen im kurdischen Südosten der Türkei wie Zwangsheirat, Blutfehde, Rivalität zwischen Clans.
Die Zeitung "Zaman" veröffentlichte eine Aufschlüsselung aller Morde aus Gründen der "Tradition", ohne die Zahl der Fälle zu nennen: 33 Prozent sind "Ehrenmorde" an unverheirateten Mädchen, bei 23 Prozent geht es um Streitereien wie Fischteiche; in neun Prozent der Fälle geht es um Ehebruch, sieben Prozent betreffen Blutfehden. Daneben kommen noch Anlässe wie Streit über die Wahl einer Braut oder "sexuelle Belästigung".
Es gab in der Türkei mehrere Tausend Ehrenmorde in den letzten Jahren. Aber das Massaker von Bilge hat eine neue, nie gesehene Qualität. Das traditionelle Konzept der Ehre besagt, dass man genau bemessen Blut vergießt, um die Ehre reinzuwaschen. "Früher waren die Tötungen nicht so massiv", zitiert die Zeitung den Soziologen Mazar Bagli. Er gibt auch den Medien Schuld, die sensationsheischend von Blutbädern berichten. Die Zeitung "Hürriyet" zitierte den Soziologen Rüstem Erkan mit den Worten:
"Das war eine Irakisierung der alten Traditionen; nicht so sehr deren Beachtung, sondern deren Missachtung führte zu dieser Tragödie." Erkan zufolge leben rund 500 000 Menschen im Südosten in Blutfehden, gehören also zu untereinander verfeindeten Clans.
http://www.welt.de/die-welt/article3690019/Dem-Massaker-in-der-Tuerkei-folgt-die-Debatte.html