Und noch einer
http://www.stefan-niggemeier.de/blog/malen-nach-zahlen/Man kann natürlich fragen, welches Interesse die „Bild”-Zeitung und ihr Chefkorrespondent Einar Koch daran haben, das Ausmaß rechtsextremistischer Gewalt in diesem Land kleinzureden. Ich vermute, es ist ein alter, aus ideologischeren Zeiten übrig gebliebener, rechter Reflex, der in doppelter Hinsicht gegen die Linke zielt: Man versucht ihren Generalverdacht, dass Deutschland immer noch und wieder voller Nazis sei, zu widerlegen. Und man behauptet, dass die Gewalt von links ohnehin das viel drängendere Problem ist. (Die mutmaßlich linken Brandstifter, die in Hamburg und Berlin seit Monaten Autos anzünden, nennt „Bild” nicht zufällig „Terroristen”.)
Aber der Grund, warum ich mich über die Falschmeldung über den Rückgang rechter Gewalt besonders geärgert habe, hat weniger mit „Bild” zu tun. Sondern mit allen anderen. In dieser Geschichte steckt fast das ganze Elend des Journalismus von heute.
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Die „Bild”-Zeitung möchte also gerne wissen, wie sich die Zahl der rechten Gewalttaten im vergangenen Jahr verändert hat. Sie möchte aber nicht abwarten, bis im Frühjahr die offiziellen Zahlen bekannt gegeben werden. Sie möchte nicht einmal abwarten, bis in einem Monat die vorläufigen Zahlen für das ganze Jahr vorliegen. Mit anderen Worten: Sie möchte gar nicht wissen, wie sich die Zahl der rechten Gewalttaten im vergangenen Jahr verändert hat. Sie möchte nur irgendwas als erster melden, was vielleicht stimmt und vielleicht nicht. Ich fürchte, damit ist sie nicht allein.
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Glaubt überhaupt irgendjemand, dass sich die Gefahr des Rechtsextremismus durch solche Statistiken messen lässt? Dass man zum Beispiel aufatmen könnte, wenn die Zahl der Gewalttaten tatsächlich um 8,5 Prozent zurückgegangen wäre? Wenn überhaupt, bräuchte man doch einen Kontext: Warum ist die Zahl zurückgegangen? Haben irgendwelche sozialen Angebote geholfen? Gab es massive Razzien? Haben die Neonazis ihr Vorgehen vom brutalen Einschüchtern aufs unauffällige Unterwandern verlagert? Oder was?
Der Zahlenfetisch der Massenmedien hat bizarre Ausmaße angenommen. Irgendwelche Prozentwerte, Statistiken und Hitparaden sagen zwar oft nichts aus, tun aber immer so, als ob. Sie wirken wie Fakten, lassen sich knackig auch in kürzesten Meldungen formulieren und ersetzen die ungleich mühsamere Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit in Form von Anschauung und Reflexion. Was will eigentlich Karl-Theodor zu Guttenberg, wofür steht er, welche Widersprüche tun sich auf? Egal, aber er ist in der Liste der beliebtesten Politiker von Platz 2 auf Platz 1 geklettert! Kein Mensch beschäftigt sich inhaltlich mit den Urteilen des Presserates, aber wenn bekannt wird, dass die Zahl der Beschwerden um 70 Prozent zugenommen hat, seit man sie einfach online einwerfen kann, schreiben das alle. Wie gut sind eigentlich die Kommentare in den „Tagesthemen”? Keine Ahnung, wer guckt das schon, aber der WDR liegt in der Kommentarhitparade an erster Stelle, und Siegmund Gottlieb BR hat zweimal häufiger kommentiert als Holger Ohmstedt vom NDR.
Und nur so kommt auch das Thema Rechtsradikalismus verlässlich in die Nachrichten: als Hitparade (die Neonazis sind zum zehnten Mal dabei, bitte nicht wiederwählen).
Wenn Journalisten Zahlen sehen, setzt bei ihnen der Verstand aus. Eine Kosmetikfirma, die sich auf natürlich-dezente Alternativen zum Make-up spezialisert hat, veröffentlicht eine angebliche „Studie”, wonach den meisten Männern dick aufgetragenes Make-Up bei ihren Partnerinnen (!) nicht gefällt. Die offenkundige PR-Geschichte geht in all ihrer Belanglosigkeit um die Welt und erscheint natürlich auch auf „Spiegel Online” samt zehnteiliger Bildstrecke — unter der bizarr-abwegigen Überschrift „Die Lockstoff-Falle: Wenn Stars zu viel auflegen”. Und weil Autorin und Ressortleiterin Patricia Dreyer offenbar meint, dass andere Leute genau so auf den Statistik-Quatsch reinfallen müssten wie sie selbst, formuliert sie, dass die Umfrage „Katie Price und Kolleginnen zum Nachdenken anregen dürfte”. Genau. Katie Price, das Fotomodell und Gesamtkunstwerk, wird sich jetzt fragen, was sie falsch gemacht hat, all die Jahre, mit der ganzen Schminke und dem ganzen Erfolg.
Mein Lieblingsbeispiel ist natürlich von den Kollegen vom Braanchendienst „Meedia”, die es schafften, in einer Meldung über getötete Journalisten in der Welt gleich zwei Hitparaden unterzubringen: Die Länder- und die Jahres-Hitparade:
Von den weltweit 88 getöteten Journalisten starben allein bei dem Massaker auf den Philippinen Ende November 35. Durch dieses eine Ereignis steigt die südostasiatische Region zum gefährlichsten Land für die Berufsgruppe auf. Auf den weiteren Plätzen: Acht Journalisten wurden in Pakistan getötet, sieben in Mexiko und sechs in Somalia. In Russland verloren fünf Journalisten ihr Leben. Weitere europäische Länder sind in dem Bericht nicht aufgelistet.
Bereits jetzt liegt 2009 im Jahresvergleich an dritter Stelle seit Beginn der WAN-Berichte im Jahr 1998: nur 2007 mit 95 und 2006 mit 110 getöteten Medienvertretern waren noch blutiger.
Ist das nicht toll? Wenn es in diesem Jahr kein einzelnes vergleichbares blutiges Massaker auf den Philippinen gibt, wird „Meedia” es als „Aufsteiger” des Jahres in Sachen Journalistensicherheit feiern können. (Die Meldung ist übrigens vom 1. Dezember. Natürlich wollte keiner das Ende des Jahres abwarten.)
Aber zurück zu den rechten Gewalttaten und „Bild”: Das Blatt behauptete gestern auch, die Zahl „rechter Straftaten insgesamt (z. B. Volksverhetzung)” sei „um 0,35 %” gestiegen. Diese (vermutlich falsche) Aussage fanden die Agenturen AFP, AP, dpa so interessant, dass sie sie begierig in die Welt trugen. Schreiben wir einmal aus, was der Wert tatsächlich bedeutet: Derjenige Teil der rechten Straftaten zwischen Januar und November 2009, der bereits in einer vorläufigen Zählung erfasst wurde, liegt um ein winziges Fitzelchen höher, als derjenige Teil der rechten Straftaten zwischen Januar und November 2008, die damals schon erfasst wurden, sich im Nachhinein als viel zu niedrig herausgestellt hatte, wovon auch in diesem Jahr wieder auszugehen ist. Das ist eine Nachricht? Wirklich? Warum?
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Und dann ist da der Fluch der Vorabmeldung. Vermutlich gibt es bei Nachrichtenagenturen interne Regeln, wie eine Nachricht auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen ist, bevor man sie veröffentlicht. (Ich weiß, der Anschein spricht nicht dafür, aber es soll solche Regeln tatsächlich geben.) Jede Pflicht zur Überprüfung einer Information erlischt aber offenbar dann, wenn sie per Fax oder E-Mail am späten Abend eintrifft und von irgendeinem Medium kommt, das ankündigt, darüber am nächsten Tag zu berichten.
Ohne jede Kontrolle beeilten sich dpa, APD, Reuters, AFP, die Behauptung von „Bild”, die Zahl rechter Gewalttaten sei zurückgegangen, möglichst schnell und möglichst weiträuming in die Welt zu pusten. So wichtig wie es für „Bild” war, die vermeintlichen Zahlen über das Jahr 2009 noch vor dem Vorliegen auch nur vorläufiger Zahlen für 2009 in zu veröffentlichen (egal ob sie stimmen oder nicht), so wichtig war es für die Nachrichtenagenturen, diese Informationen noch vor Tagesanbruch weiterzutragen. AP schaffte es 0.15 Uhr als erstes, AFP zog um 1.56 Uhr nach, dpa brauchte bis 2.31 Uhr und die Nachtschicht von Reuters konnte um 4.28 Uhr Vollzug melden.
Keine dieser Agenturen fand die Quelle „Bild” zu halbseiden, keine erinnerte sich, dass der Autor der „Bild”-Meldung einschlägig bekannt ist und vor knapp vier Jahren schon einmal zum selben Thema eine Falschmeldung produziert hatte. Keine der Agenturen stutzte, dass die Behauptungen von „Bild”, die auf Zahlen des BKA beruhen sollen, den von ihnen allen damals vermeldeten Äußerungen von BKA-Chef Jörg Ziercke widersprachen, der vor drei Wochen erst gesagt hatte, er rechne für 2009 mit ähnlich vielen rechten Straf- und Gewalttaten wie im Vorjahr, und auch angesichts der besonderen Brutalität rechter Schläger davor warnte, an Aussteigerprogrammen zu sparen.
Wenn die Nachtschicht sich nur auch nur zwei Minuten genommen hätte, ins eigene Archiv zu gucken, hätten sie vielleicht auch entdeckt, dass die aktuelle Behauptung von „Bild”, linksradikale Gewalt habe in den ersten drei Quartalen um 49,4 Prozent zugenommen (nein, nicht um die Hälfte, um 49,4 Prozent!) keine Neuigkeit war. Die Zeitung hatte das schon am 16. Dezember behauptet. Das Bundesinnenministerium und das BKA hatten damals davor gewarnt, diesen Zahlen zu glauben, weil sie noch vorläufig und nicht verlässlich seien. Aber die Agenturen hatten sie natürlich trotzdem übernommen.
Das war schlimm genug. Aber nicht zu merken, dass diese Zahlen, die „Bild” noch einmal veröffentlicht hat, weil sie so einen schönen Kontrast darstellen zur angeblich zurückgehenden Zahl rechter Gewaltdelikte, und sie als Neuigkeit zu behandeln, wie es dpa, AFP und APD getan haben, ist schlicht bekloppt. AFP packte die Scheinnachricht sogar in die Überschrift: „Zeitung: Weniger rechtsextreme Gewalttaten in Deutschland – Laut BKA aber Zunahme bei Linksextremisten” (wohlgemerkt: jenes BKA, das sich schon von der ersten Veröffentlichung im Dezember distanziert hatte).
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Nächster Akt: Bei dpa bekommt jemand plötzlich einen Rechercheflash. Am Vormittag fragt er beim BKA nach den Zahlen, die „Bild” unter Berufung auf das BKA nennt, und bekommt zur Antwort: Von uns ist das nicht. Nun könnte man denken, dass das ein guter Grund wäre, die halbgaren Daten aus einer Quelle von der bekannten Seriösität der „Bild”-Zeitung nicht zu verwenden. Falsch. Für dpa ist es ein Grund, die Daten noch einmal zu vermelden — nur halt mit dem Zusatz, dass das BKA sie nicht bestätigen möchte.
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An dieser Stelle muss man noch einmal darauf hinweisen, was passiert, wenn Nachrichtenagenturen Meldungen aus dubiosen Quellen wie „Bild” übernehmen: Sie machen aus ihnen Meldungen aus seriöser Quelle. Der Presserat, das Selbstkontrollsimulationsgremium, hat erklärt, dass Journalisten sich blind auf die Meldungen von Nachrichtenagenturen verlassen dürfen. Ihnen ist kein Vorwurf zu machen, wenn sie das nicht mehr nachrecherchieren. Ist das nicht toll? Unsere Nachrichtenagenturen melden Dinge, die sie nicht nachprüfen, und andere dürfen sie dann unbesehen übernehmen, weil sie von Nachrichtenagenturen gemeldet werden.
Das passiert im Online-Journalismus natürlich inzwischen sogar weitgehend automatisch, weshalb die Quatschmeldung vom Rückgang der rechten Straftaten innerhalb kürzester Zeit von den Internet-Ablegern vermeintlich renommierter Medien wie der „Süddeutschen Zeitung”, dem „Stern” und der „Deutschen Welle” weiterverbreitet wurde.
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Als nächstes habe ich einen Fehler gemacht. Ich habe einem Kollegen bei dpa geschrieben, dass ich angesichts von deren Berichterstattung eine fiese Migräne bekommen habe (sinngemäß), was leider einen anderen dpa-Mann veranlasste, der Sache mit „Bild” und dem BKA und den Zahlen noch einmal nachzugehen. Vom Bundesinnenministerium erfuhr die Agentur, dass die Zahlen nicht seriös seien, was sie in einer weiteren Meldung brav aufschrieb, bevor sie die unseriösen Zahlen zum inzwischen dritten Mal vermeldete. Vor allem aber hatte sie den Schwerpunkt ihrer, nun ja: Recherche fatalerweise auf nicht die fehlende Aussagekraft der „Bild”-Zahlen gelegt, sondern die Frage, woher die „Bild”-Zeitung schon den vorläufigen Wert für November kennt, obwohl der noch gar nicht veröffentlicht wurde.
Die dpa-Meldung trug den Titel „Wirbel um Zahlen zu rechtsextremen Gewalttaten”, was dem überaus ahnungslosen diensthabenden Nachrichten-Redakteur bei „Focus Online” offenbar zu langweilig war. Er schmückte die ohnehin abwegige dpa-Geschichte noch weiter aus und verpackte sie so:
Wer hat geplaudert?
Eine Meldung über zurückgehende Zahlen bei rechtsextremer Gewalt hat für Wirbel gesorgt. Die Zahlen waren nicht amtlich, das BKA sucht nach der undichten Stelle. Eine angebliche Spur führt in den Bundestag.
Aus Zahlen ohne Aussagekraft (die aber ohnehin jeden Monat veröffentlicht werden) sind also nun Zahlen von höchster Brisanz geworden (die jemand lanciert hat, obwohl sie eigentlich geheim gehalten werden sollten).
Das ist nun die Art Meldung, auf die der hysterisch-paranoide Mob der Möchtegern-politisch-Inkorrekten gewartet hat. Diese Leute sind der Meinung, dass Ausländer und Moslems dieses Land in den Untergang führen, und dass ihnen dabei eine Verschwörung der Massenmedien und der herrschenden Klasse hilft, die Meldungen über Ausländerkriminalität unterdrücken und die Gefahr durch deutsche Neonazis übertreiben. Man findet diese Leute in besonders konzentrierter Form bei „Politically Incorrect”, einer riesigen Internet-Selbsthilfe- und Selbstbestätigungsgruppe für Menschen, die nicht verstehen, warum sie Rassisten sein sollen, obwohl sie doch nur was gegen Moslems und andere Ausländer haben, aber auch massenhaft in den Kommentarspalten vieler Medien.
Diese Leute verstehen die „Focus Online”-Meldung nun als Beweis für ihre Verschwörungstheorie. Jemand habe verbotenerweise ausgeplaudert, was eigentlich geheim bleiben sollte: dass das mit der Neonazi-Gewalt gar nicht (mehr) so schlimm ist (nachzulesen u.a. in den Kommentaren auf „Focus Online”, natürlich bei „Politically Incorrect”, mit Kommentaren wie: „Der Kampf gegen Rechts ist die SA der LinksgrünInnen”, aber auch in ähnlich schlimmer Form in der „Readers Edition”). Wenn irgendwann im Frühling die tatsächlichen Zahlen über rechte Gewalt veröffentlicht werden (von denen noch unbekannt ist, ob sie zugenommen oder abgenommen hat, deren Zahl aber auf jeden Fall drastisch über den von „Bild” genannten liegen wird, weil das in der Natur der Sache der vorläufigen Zählung liegt), dann werden diese Leute auch das wieder als Bestätigung für ihre krude Weltsicht interpretieren: Man habe die Zeit genutzt, so lange die Zahlen zu manipulieren, bis das rauskam, was rauskommen sollte, nämlich dass Nazis immer noch ein großes Problem sind, obwohl doch in Wahrheit die Ausländer das Problem seien.
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Hinter der hier exemplarisch beschriebenen Form der flächendeckenden Desinformation steckt keine Panne. Sie hat System. Wenn „Bild”-Chefkorrespondent Einar Koch in seinem Wahn, die Zahl rechtsextremer Gewalt kleinschreiben zu wollen (oder auch nur derjenige zu sein, den alle mit der Exklusiv-News über die Zahl rechtsextremer Gewalt zu zitieren) nächsten Monat oder nächstes Jahr wieder denselben Unsinn veröffentlicht, wird wieder genau dasselbe passieren.