Rassismus
08.10.2017 um 20:35Hier mein 2. Anlauf zum Thema Rassismus. Der 1. Versuch wurde geschlossen, da er angeblich zu allgemein, zu verwirrend und zu unspezifisch-beliebig sei und daher keine vernünftige Diskussionsgrundlage und nahezu unmoderierbar.
Es scheint also zu wenig zu sein für so ein komplexes Thema, einfach zu behaupten, dass Rassismus das Oberthema sei für alle politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse und Probleme, die uns derzeit belasten und aufregen (Rechtsextremismus, Pegida, AfD, Migranten, Migrantengewalt, Gewalt gegen Migranten, Terrorismus, "Überfremdung", Parallelgesellschaften, Islam, Islamismus, "Kampf der Kulturen", Rechtsruck in allen westlichen Gesellschaften etc.), von denen diese "Phänomene" nur Resultate und Subsysteme zu sein scheinen.
Butter bei die Fische?
Tja, wenn ich das jetzt auszuarbeiten versuche, kommt das bei raus, was von der Moderation dann auch wieder nicht gewünscht ist, nämlich ein Essay in Romanlänge, bei dem jeder nach den ersten paar Seiten einschläft. Dennoch muss ich es riskieren, selbst wenn es etwas lang wird.
Historisch gesehen ist Rassismus so alt wie die Menschheit und daher kein spezifisch oder gar ausschließlich deutsches Phänomen, auch wenn er bei uns zusammen mit den USA der härteste ist, und das bezieht sich nicht nur auf "die 12 Jahre" unserer Vergangenheit. Auch andere Völker, die nicht zum Westen gehören, führen Kriege und Bürgerkriege, aber da ist, von Ausnahmen abgesehen wie der vor Jahrzehnten stattgefundene Krieg zwischen den Hutu und Tutsi in Zentralafrika, das Zentralmotiv meistens ein anderes, da geht es um Religion, Kultur, Territorium, Ideologien und Ressourcen. Der ethnisch bedingte Rassismus scheint eines der wenigen Relikte zu sein, die noch aus der Altsteinzeit in unsere moderne Gegenwart hineinreichen; es könnte sich dabei um einen Instinkt handeln ähnlich wie Fluchtinstinkt, Angst und Selbstverteidigung, denn stets war mit dem Fremden, dem Unbekannten, eine Gefahr für den Bestand der eigenen Gruppe verbunden. Fremde kamen meistens als Eroberer, Plünderer, Brandschatzer, Frauen- und Pferdediebe, und häufig waren die Begegnungen mit Krieg und der Gefahr des Verlustes des eigenen Territoriums verbunden. Der bedrohliche Fremde zeichnete sich dadurch aus, dass er anders aussah als "wir": andere Hautfarbe, andere Sprache, anderer Schmuck, andere Kleidung, andere Rituale usw. Und stets ging es um Territorium. Daraus entstanden Kriege – eines der frühesten und auffälligsten Merkmale von Rassismus.
In Großkriegen ging es darum, andere Völker zu unterwerfen, ihr Territorium dem eigenen anzuschließen und es ausbeuten zu lassen, indem das unterworfene Volk gezwungen wurde, dem siegreichen in Form von Sklavenarbeit die Bodenschätze und die anderen Früchte des Bodens auch noch aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen. So gab es schon vor Jahrtausenden, nicht erst bei den alten Römern, sondern auch schon im pharaonischen Ägypten, Sklavenhaltergesellschaften. Mit der Welteroberung durch die Europäer kam dann die modernere Form des Kolonialismus hinzu, bei dem das von den Sklavengesellschaften erarbeitete Surplus in die Heimatländer exportiert wurde. Nur so konnte eine weltweit agierende Nation wie Britannien es zu einem Imperium wie das British Empire bringen, dem größten Imperium der Weltgeschichte.
Aber der Feind, den es im schlimmsten Fall zu besiegen, im besten Fall zu unterwerfen galt, um ihn für sich selbst arbeiten zu lassen, war ja nicht nur "draußen in der Welt", sondern auch im Innern, im eigenen Land, und das waren in den meisten europäischen und amerikanischen Staaten eben die Juden. Und so ist die Rassismusgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit bis 1945 praktisch identisch mit der Geschichte des Antisemitismus bis 1945. In Amerika kam noch verstärkt die Geschichte der Niederwerfung und Ausrottung der indigenen Bevölkerung und der Apartheid gegenüber der schwarzen Bevölkerung hinzu.
Doch mit dem Ende der Nazi-Diktatur 1945 wurde die Welt nicht über Nacht ein friedliches Miteinander der Völker; er verlor nur weitgehend die staatliche Komponente und verzweigte sich: auf Makroebene deutete sich ein "Kampf der Kulturen" (Samuel P. Huntington) an (Wikipedia: Clash of Civilizations), auf Mikroebene die alltäglichen Auseinandersetzung der "Herrenrasse" (die weißen Eingeborenen Amerikas und Europas) vs. die "Bittsteller" (eingebürgerte Migranten, Migranten, Flüchtlinge). Wer glaubt, wir hätten den Rassismus (nach 1945) erst mit den "Gastarbeitern" aus der Türkei "importiert", der irrt gewaltig, einerseits weil er wohl zu jung ist, um die "nicht rassistischen" Jahrzehnte zwischen 1945 und 1990 aus eigener Anschauung miterlebt zu haben, andererseits weil unsere Schulbücher, was die deutsche Geschichte betrifft, darüber schweigen. Und wenn es Rassismus gab, dann nur im Osten, in der bösen DDR, mit ihren "Fidschis".
Dass dem nicht so war, dafür gibt es Belege, wenn man mal Zeitungsausschnitte aus der Zeit vor 1990 analysiert, aber auch Augenzeugenberichte. Hier ein Tagebucheintrag von mir aus dem Jahr 1976, als ich gerade in Heidelberg zu studieren begann: Nein, ich stell ihn doch lieber nicht ein, weil er zu viele "schmutzige" Ausdrücke enthält, die zu einer Löschung und damit zu einem erneuten Nichtzustandekommen des Threads führen könnten.
Öffentlichkeitswirksam wurde der Rassismus bei uns erst in der Mitte der Kohl-Ära um 1990, zufällig zeitgleich mit der Wiedervereinigung und dem diesbezüglich ungehobelteren und raueren Osten, aus dem noch Sprüche in Tacheles-Deutsch kamen, die wir uns in der Öffentlichkeit gar nicht zu sagen trauten. Die erste Generation der Türken als "Gastarbeiter" war noch – und das bei von staatlicher Seite null angebotener Integration – gut integriert oder sagen wir in diesem Fall gut angepasst. Nach einigen Jahren sprachen die Leute fließend Deutsch, und es war absolut kein Kriterium der Herkunft, wer in unserer Clique war. Was zählte, war die Chemie untereinander und nicht die Herkunft. Das änderte sich nach der Wiedervereinigung, sei's aus wirtschaftlichen Gründen und zunehmender Massenarbeitslosigkeit, aber auch weil man den Nachzug immer neuer Migranten aus der Türkei stoppen wollte. In den Nullerjahren gab es in den ostdeutschen Großstädten Bereiche, in die sich keine Nicht-Biodeutschen mehr reintrauten ("national befreite Zonen") und die Polizei war häufig auf dem rechten Auge blind.
Als jeder glaubte, dass es sich langsam beruhigen würde und das Schlimmste überstanden sei, kam Sarrazins furchtbarer Beststeller "Deutschland schafft sich ab" und begründete scheinwissenschaftlich den uralten, noch aus den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stammenden biologistischen Rassismus, diesmal genetisch argumentierend. Wer Gene in sich trägt, die nicht indogermanischen Ursprungs sind, hat es schwer in der westlichen Welt. Die Reaktion auf das Buch war – ich "durfte" das damals in diversen Foren erleben – ein Riss durch die Gesellschaft. Es wird hier von rechter Seite häufig argumentiert, die "Flüchtlingswelle" 2015 hätte zu einem Riss in unserer Gesellschaft geführt. Das stimmt nicht. Das Sarrazin-Buch und die Reaktion darauf bewies etwas ganz Anders: dass dieser Riss schon vorher da war, aber vor Sarrazin durfte man nicht in Tacheles-Deutsch darüber sprechen, sondern musste herumschwurbeln, um durch die Blume anzudeuten, dass man "diese Leute" eigentlich "raus haben" wollte. Selten habe ich so hysterische Reaktionen in den Foren, so schnell aufeinander folgende Beiträge, so viele Sperren erlebt wie im Sommer 2010. (Ich weiß nicht, wie es in diesem Forum war, war zwar angemeldet hier, hielt mich aktiv aber nicht hier auf).
Und es ist bis auf den heutigen Tag kein Deut besser geworden, im Gegenteil: man läuft Gefahr sich schon dran gewöhnt zu haben. Besonders seit die AfD im Talk-Fernsehen spätestens seit den Wahlen "gesellschaftsfähig" geworden zu sein scheint, und sei es auch nur als schriller Außenseiter.
Nun, was ist das Spezifische des aktuellen Rassismus? Neben dem zeitlosen Ausschließungsprinzip – echte Deutsche sehen mitteleuropäisch aus, sind Christen oder Atheisten, fallen allenfalls böllernd in Fußballstadien und gröhlend auf, wenn sie nachts aus einer Kneipe torkeln, aber das ist dem jungen Alter zuzuschreiben – kann man Ausdrucksformen des Rassismus auf Makroebene und in anderer Form auf Miokroebene ausmachen, ebenso wie den großen erlaubten Teil von Rassismus und den harten Kern von nicht erlaubtem Rassismus.
Auf Makroebene äußert sich der Rassismus so:
• Trumpeltier-Rassismus ("America first", keine Muslime aus benannten Ländern reinlassen, geplante Mauer zu Mexiko, weitgehende Exkulpation rassistischer Gewalt, wie zuletzt in Charlottesville zu besichtigen
• Extraterritoriale Kriege in "Drittregionen", um westliche Strukturen durchzusetzen (militärische Einsätze in Afghanistan, Syrien, Irak, diversen Regionen in Afrika), in Zeiten des kalten Kriegs auch in Lateinamerika, ebenfalls Afrika, Südostasien (Vietnam etc.)
• "Kulturkrieg" gegen "den Islam" (angefangen von Mohammed-Karikaturen und Witzen über Erdogan und Schuldzuweisungen gegen "den Islam" (der Islam sei eine Kriegsreligion, er wolle die ganze Welt missionieren, sei Hauptverursacher für den islamistischen Terrorismus, dulde keine andere Religion neben sich, sei mit westlichem Lebensstil unvereinbar, wolle gezielt Europa unterwandern und islamisieren, indem Flüchtlinge massenhaft nach Europa "geschickt" würden, betreibe also insgesamt eine "asymmetrische Kriegsführung" gegen den Westen
• auf genetisch-rassistischer Argumentationsebene wird in diesem Zusammenhang von "Umvolkung" gesprochen; auch Multikulturalismus wird rassistisch verworfen ("Parallelgesellschaften" und die höhere Fertilität afrikanischer und muslimischer Frauen würde die Bevölkerung in Deutschland, das eh schon unter demografischer Schwindsucht leidet, mehr und mehr "dunkelhäutig" und "islamisch" machen, und selbst die Sprache könnte bald das Nachsehen haben, denn es gebe heute schon Großstadtregionen, wo man alle möglichen Sprachen hört, aber kaum noch Deutsch)
• Hand in Hand mit der "Überfremdung" der Staaten in Europa ginge auch der wirtschaftliche Niedergang Europas, denn die Nachkommen der Migranten seien vergleichsweise ungebildet, besonders die Afrodeutschen dazu noch faul und kriminell (jemand schrieb hier, 99% der Flüchtlinge aus Nigeria würden hier vom Drogenhandel leben), was die EU gegenüber den wirtschaftlichen Großmächten USA und China am Ende in die Knie zwingen würde.
Auf Mikroebene ist der Rassismus breit aufgefächert und reicht vom (legalen) Alltagsrassismus bis hin zum (illegalen) harten Rassismus, wobei nur Letzterer von den meisten als tatsächlich vorhandener Rassismus eingestuft wird.
Beispiele für "harmlosen" Alltagsrassismus:
• gar nicht bemerkter Alltagsrassismus, häufig sogar als Kompliment gedacht. Deutscher Mann zu dunkelhäutiger Frau: "Sie sprechen aber gut Deutsch, wo haben Sie das denn gelernt? Wie lange bleiben Sie denn noch hier und wann geht’s wieder zurück nach Afrika?" Allgemeine Vorstellung: Schwarze sind sportlich, können gut tanzen, kriegen alle Frauen rum, verdünnisieren sich sobald ein Kind auf dem Weg ist, sind faul, nur mäßig begabt und insgesamt Glücksritter. Türken bilden Parallelgesellschaften, wollen mit der einheimischen Bevölkerung nichts zu tun haben und bleiben lieber unter sich. Araber sind laut, ungebildet und unterdrücken und schlagen alle ihre Frauen.
• Häufiges Vordrängeln (besonders gegenüber nichtdeutschen Frauen) an der Supermarktkasse, unflätige Bemerkungen im Du-Ton ("stell dich hinten an oder nimm das Kopftuch ab!"), Verbalinjurien "en passant", Endstation am Disco-Türsteher, besonders bei nichtdeutschen Männern, unhöfliche bzw. herablassende Bedienung beim Einkaufen im Fachgeschäft, im Restaurant, unfreundliche Bedienung; schlechte Behandlung durch die deutsche Polizei, anlasslose Fahrzeugkontrolle wesentlich häufiger als bei Biodeutschen,
• Systematische Nachteile von Leuten mit türkisch oder arabisch klingenden Nachnamen bei der Job- und Wohnungssuche. Besonders bei der Wohnungssuche sind hier wiederum Männer noch mehr benachteiligt als Frauen.
• Häufig Ausgrenzung von Nichtdeutschen und Deutschen mit Migrationshintergrund in Gruppen, Freundeskreisen, Cliquen, aber nur, wenn sie außereuropäischen Ursprungs sind
• "Migranten- und islamkritische" Argumentationslinien in Foren-Threads, auch hier
• Bis hin zu grundgesetzwidrigen Wünschen an die Politiker wie z.B. Aussortierung der Flüchtlinge (etwa in einem Flüchtlingslager in Libyen) nach mutmaßlicher "Kompatibilität" (lieber Frauen und Kinder als junge Männer, Bei den Männern nur solche mit guter Ausbildung, damit man für sie in Europa nicht noch Jahre lang Sozialleistungen zahlen muss; Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen, am liebsten völliger Aufnahmestopp. Immer weiter zunehmendes Verständnis in der Öffentlichkeit für Pegida- und AfD-Argumentationen bzgl. Islam und Flüchtlingen; man traut sich immer dreister, kulturchauvinistisch zu argumentieren; was vor 2 Jahren noch zur Sperre eines Users geführt hätte, wird heute überwiegend zähneknirschend durchgewunken, zumal die meisten neuen User extrem "islamkritisch" argumentieren. Steter Tropfen höhlt den Stein, alles Gewöhnungssache. Die rassistischen und nationalsozialistischen Ausfälle eines Höcke oder Gedeon werden mit Bedenken hingenommen, ohne dass ihnen strafrechtlich wegen Volksverhetzung groß was droht. Der Kopp-Verlag etwa darf nach Belieben veröffentlichen, was er gerade will; bis zur Zeit vor der Wiedervereinigung wäre so ein Verlag sofort "einkassiert" worden. "Compact" dard weiter seinen rassistischen Dreck veröffentlichen; indymedia wurde geschlossen.
• Der hetzerische Rassismus bis hin zu "fake reality" kann überhaupt nicht angemessen politisch und strafrechtlich verfolgt werden, das ist eine Lawine, gegen die die ganze Welt offenbar machtlos ist.
Beispiele für schweren Rassismus will ich gar nicht nennen, den kann man leicht ergoogeln; er reicht von Gewalt (schwerer Körperverletzung) über Brandstiftung bis hin zum Mord und wird zumindest strafrechtlich noch angemessen verfolgt, etwa im Vergleich zu den USA; aber wir haben ja auch eine nicht besonders ruhmreiche Vergangenheit und dürfen deshalb im Ernstfall, wenn's wirklich kritisch wird, wohl weniger als andere Nationen.
Jetzt soll ich, wenn's nach der Moderation geht, noch angeben, worüber ich speziell diskutieren lassen will. Das ist leider völlig unmöglich, denn über jeden Teil, den ich hier angerissen habe, lässt sich diskutieren, zu jedem einzelnen Punkt. Jeder Versuch die Diskussion hier in eine bestimmte Richtung zu lenken, blendet alle anderen Bereiche aus und würde die Rassismus-Diskussion verkürzen und verschmälern. Der Bereich Rassismus ist aber nun mal leider nicht schmaler als hier schlagwortartig ins Publikum geworfen.
Es scheint also zu wenig zu sein für so ein komplexes Thema, einfach zu behaupten, dass Rassismus das Oberthema sei für alle politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse und Probleme, die uns derzeit belasten und aufregen (Rechtsextremismus, Pegida, AfD, Migranten, Migrantengewalt, Gewalt gegen Migranten, Terrorismus, "Überfremdung", Parallelgesellschaften, Islam, Islamismus, "Kampf der Kulturen", Rechtsruck in allen westlichen Gesellschaften etc.), von denen diese "Phänomene" nur Resultate und Subsysteme zu sein scheinen.
Butter bei die Fische?
Tja, wenn ich das jetzt auszuarbeiten versuche, kommt das bei raus, was von der Moderation dann auch wieder nicht gewünscht ist, nämlich ein Essay in Romanlänge, bei dem jeder nach den ersten paar Seiten einschläft. Dennoch muss ich es riskieren, selbst wenn es etwas lang wird.
Historisch gesehen ist Rassismus so alt wie die Menschheit und daher kein spezifisch oder gar ausschließlich deutsches Phänomen, auch wenn er bei uns zusammen mit den USA der härteste ist, und das bezieht sich nicht nur auf "die 12 Jahre" unserer Vergangenheit. Auch andere Völker, die nicht zum Westen gehören, führen Kriege und Bürgerkriege, aber da ist, von Ausnahmen abgesehen wie der vor Jahrzehnten stattgefundene Krieg zwischen den Hutu und Tutsi in Zentralafrika, das Zentralmotiv meistens ein anderes, da geht es um Religion, Kultur, Territorium, Ideologien und Ressourcen. Der ethnisch bedingte Rassismus scheint eines der wenigen Relikte zu sein, die noch aus der Altsteinzeit in unsere moderne Gegenwart hineinreichen; es könnte sich dabei um einen Instinkt handeln ähnlich wie Fluchtinstinkt, Angst und Selbstverteidigung, denn stets war mit dem Fremden, dem Unbekannten, eine Gefahr für den Bestand der eigenen Gruppe verbunden. Fremde kamen meistens als Eroberer, Plünderer, Brandschatzer, Frauen- und Pferdediebe, und häufig waren die Begegnungen mit Krieg und der Gefahr des Verlustes des eigenen Territoriums verbunden. Der bedrohliche Fremde zeichnete sich dadurch aus, dass er anders aussah als "wir": andere Hautfarbe, andere Sprache, anderer Schmuck, andere Kleidung, andere Rituale usw. Und stets ging es um Territorium. Daraus entstanden Kriege – eines der frühesten und auffälligsten Merkmale von Rassismus.
In Großkriegen ging es darum, andere Völker zu unterwerfen, ihr Territorium dem eigenen anzuschließen und es ausbeuten zu lassen, indem das unterworfene Volk gezwungen wurde, dem siegreichen in Form von Sklavenarbeit die Bodenschätze und die anderen Früchte des Bodens auch noch aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen. So gab es schon vor Jahrtausenden, nicht erst bei den alten Römern, sondern auch schon im pharaonischen Ägypten, Sklavenhaltergesellschaften. Mit der Welteroberung durch die Europäer kam dann die modernere Form des Kolonialismus hinzu, bei dem das von den Sklavengesellschaften erarbeitete Surplus in die Heimatländer exportiert wurde. Nur so konnte eine weltweit agierende Nation wie Britannien es zu einem Imperium wie das British Empire bringen, dem größten Imperium der Weltgeschichte.
Aber der Feind, den es im schlimmsten Fall zu besiegen, im besten Fall zu unterwerfen galt, um ihn für sich selbst arbeiten zu lassen, war ja nicht nur "draußen in der Welt", sondern auch im Innern, im eigenen Land, und das waren in den meisten europäischen und amerikanischen Staaten eben die Juden. Und so ist die Rassismusgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit bis 1945 praktisch identisch mit der Geschichte des Antisemitismus bis 1945. In Amerika kam noch verstärkt die Geschichte der Niederwerfung und Ausrottung der indigenen Bevölkerung und der Apartheid gegenüber der schwarzen Bevölkerung hinzu.
Doch mit dem Ende der Nazi-Diktatur 1945 wurde die Welt nicht über Nacht ein friedliches Miteinander der Völker; er verlor nur weitgehend die staatliche Komponente und verzweigte sich: auf Makroebene deutete sich ein "Kampf der Kulturen" (Samuel P. Huntington) an (Wikipedia: Clash of Civilizations), auf Mikroebene die alltäglichen Auseinandersetzung der "Herrenrasse" (die weißen Eingeborenen Amerikas und Europas) vs. die "Bittsteller" (eingebürgerte Migranten, Migranten, Flüchtlinge). Wer glaubt, wir hätten den Rassismus (nach 1945) erst mit den "Gastarbeitern" aus der Türkei "importiert", der irrt gewaltig, einerseits weil er wohl zu jung ist, um die "nicht rassistischen" Jahrzehnte zwischen 1945 und 1990 aus eigener Anschauung miterlebt zu haben, andererseits weil unsere Schulbücher, was die deutsche Geschichte betrifft, darüber schweigen. Und wenn es Rassismus gab, dann nur im Osten, in der bösen DDR, mit ihren "Fidschis".
Dass dem nicht so war, dafür gibt es Belege, wenn man mal Zeitungsausschnitte aus der Zeit vor 1990 analysiert, aber auch Augenzeugenberichte. Hier ein Tagebucheintrag von mir aus dem Jahr 1976, als ich gerade in Heidelberg zu studieren begann: Nein, ich stell ihn doch lieber nicht ein, weil er zu viele "schmutzige" Ausdrücke enthält, die zu einer Löschung und damit zu einem erneuten Nichtzustandekommen des Threads führen könnten.
Öffentlichkeitswirksam wurde der Rassismus bei uns erst in der Mitte der Kohl-Ära um 1990, zufällig zeitgleich mit der Wiedervereinigung und dem diesbezüglich ungehobelteren und raueren Osten, aus dem noch Sprüche in Tacheles-Deutsch kamen, die wir uns in der Öffentlichkeit gar nicht zu sagen trauten. Die erste Generation der Türken als "Gastarbeiter" war noch – und das bei von staatlicher Seite null angebotener Integration – gut integriert oder sagen wir in diesem Fall gut angepasst. Nach einigen Jahren sprachen die Leute fließend Deutsch, und es war absolut kein Kriterium der Herkunft, wer in unserer Clique war. Was zählte, war die Chemie untereinander und nicht die Herkunft. Das änderte sich nach der Wiedervereinigung, sei's aus wirtschaftlichen Gründen und zunehmender Massenarbeitslosigkeit, aber auch weil man den Nachzug immer neuer Migranten aus der Türkei stoppen wollte. In den Nullerjahren gab es in den ostdeutschen Großstädten Bereiche, in die sich keine Nicht-Biodeutschen mehr reintrauten ("national befreite Zonen") und die Polizei war häufig auf dem rechten Auge blind.
Als jeder glaubte, dass es sich langsam beruhigen würde und das Schlimmste überstanden sei, kam Sarrazins furchtbarer Beststeller "Deutschland schafft sich ab" und begründete scheinwissenschaftlich den uralten, noch aus den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts stammenden biologistischen Rassismus, diesmal genetisch argumentierend. Wer Gene in sich trägt, die nicht indogermanischen Ursprungs sind, hat es schwer in der westlichen Welt. Die Reaktion auf das Buch war – ich "durfte" das damals in diversen Foren erleben – ein Riss durch die Gesellschaft. Es wird hier von rechter Seite häufig argumentiert, die "Flüchtlingswelle" 2015 hätte zu einem Riss in unserer Gesellschaft geführt. Das stimmt nicht. Das Sarrazin-Buch und die Reaktion darauf bewies etwas ganz Anders: dass dieser Riss schon vorher da war, aber vor Sarrazin durfte man nicht in Tacheles-Deutsch darüber sprechen, sondern musste herumschwurbeln, um durch die Blume anzudeuten, dass man "diese Leute" eigentlich "raus haben" wollte. Selten habe ich so hysterische Reaktionen in den Foren, so schnell aufeinander folgende Beiträge, so viele Sperren erlebt wie im Sommer 2010. (Ich weiß nicht, wie es in diesem Forum war, war zwar angemeldet hier, hielt mich aktiv aber nicht hier auf).
Und es ist bis auf den heutigen Tag kein Deut besser geworden, im Gegenteil: man läuft Gefahr sich schon dran gewöhnt zu haben. Besonders seit die AfD im Talk-Fernsehen spätestens seit den Wahlen "gesellschaftsfähig" geworden zu sein scheint, und sei es auch nur als schriller Außenseiter.
Nun, was ist das Spezifische des aktuellen Rassismus? Neben dem zeitlosen Ausschließungsprinzip – echte Deutsche sehen mitteleuropäisch aus, sind Christen oder Atheisten, fallen allenfalls böllernd in Fußballstadien und gröhlend auf, wenn sie nachts aus einer Kneipe torkeln, aber das ist dem jungen Alter zuzuschreiben – kann man Ausdrucksformen des Rassismus auf Makroebene und in anderer Form auf Miokroebene ausmachen, ebenso wie den großen erlaubten Teil von Rassismus und den harten Kern von nicht erlaubtem Rassismus.
Auf Makroebene äußert sich der Rassismus so:
• Trumpeltier-Rassismus ("America first", keine Muslime aus benannten Ländern reinlassen, geplante Mauer zu Mexiko, weitgehende Exkulpation rassistischer Gewalt, wie zuletzt in Charlottesville zu besichtigen
• Extraterritoriale Kriege in "Drittregionen", um westliche Strukturen durchzusetzen (militärische Einsätze in Afghanistan, Syrien, Irak, diversen Regionen in Afrika), in Zeiten des kalten Kriegs auch in Lateinamerika, ebenfalls Afrika, Südostasien (Vietnam etc.)
• "Kulturkrieg" gegen "den Islam" (angefangen von Mohammed-Karikaturen und Witzen über Erdogan und Schuldzuweisungen gegen "den Islam" (der Islam sei eine Kriegsreligion, er wolle die ganze Welt missionieren, sei Hauptverursacher für den islamistischen Terrorismus, dulde keine andere Religion neben sich, sei mit westlichem Lebensstil unvereinbar, wolle gezielt Europa unterwandern und islamisieren, indem Flüchtlinge massenhaft nach Europa "geschickt" würden, betreibe also insgesamt eine "asymmetrische Kriegsführung" gegen den Westen
• auf genetisch-rassistischer Argumentationsebene wird in diesem Zusammenhang von "Umvolkung" gesprochen; auch Multikulturalismus wird rassistisch verworfen ("Parallelgesellschaften" und die höhere Fertilität afrikanischer und muslimischer Frauen würde die Bevölkerung in Deutschland, das eh schon unter demografischer Schwindsucht leidet, mehr und mehr "dunkelhäutig" und "islamisch" machen, und selbst die Sprache könnte bald das Nachsehen haben, denn es gebe heute schon Großstadtregionen, wo man alle möglichen Sprachen hört, aber kaum noch Deutsch)
• Hand in Hand mit der "Überfremdung" der Staaten in Europa ginge auch der wirtschaftliche Niedergang Europas, denn die Nachkommen der Migranten seien vergleichsweise ungebildet, besonders die Afrodeutschen dazu noch faul und kriminell (jemand schrieb hier, 99% der Flüchtlinge aus Nigeria würden hier vom Drogenhandel leben), was die EU gegenüber den wirtschaftlichen Großmächten USA und China am Ende in die Knie zwingen würde.
Auf Mikroebene ist der Rassismus breit aufgefächert und reicht vom (legalen) Alltagsrassismus bis hin zum (illegalen) harten Rassismus, wobei nur Letzterer von den meisten als tatsächlich vorhandener Rassismus eingestuft wird.
Beispiele für "harmlosen" Alltagsrassismus:
• gar nicht bemerkter Alltagsrassismus, häufig sogar als Kompliment gedacht. Deutscher Mann zu dunkelhäutiger Frau: "Sie sprechen aber gut Deutsch, wo haben Sie das denn gelernt? Wie lange bleiben Sie denn noch hier und wann geht’s wieder zurück nach Afrika?" Allgemeine Vorstellung: Schwarze sind sportlich, können gut tanzen, kriegen alle Frauen rum, verdünnisieren sich sobald ein Kind auf dem Weg ist, sind faul, nur mäßig begabt und insgesamt Glücksritter. Türken bilden Parallelgesellschaften, wollen mit der einheimischen Bevölkerung nichts zu tun haben und bleiben lieber unter sich. Araber sind laut, ungebildet und unterdrücken und schlagen alle ihre Frauen.
• Häufiges Vordrängeln (besonders gegenüber nichtdeutschen Frauen) an der Supermarktkasse, unflätige Bemerkungen im Du-Ton ("stell dich hinten an oder nimm das Kopftuch ab!"), Verbalinjurien "en passant", Endstation am Disco-Türsteher, besonders bei nichtdeutschen Männern, unhöfliche bzw. herablassende Bedienung beim Einkaufen im Fachgeschäft, im Restaurant, unfreundliche Bedienung; schlechte Behandlung durch die deutsche Polizei, anlasslose Fahrzeugkontrolle wesentlich häufiger als bei Biodeutschen,
• Systematische Nachteile von Leuten mit türkisch oder arabisch klingenden Nachnamen bei der Job- und Wohnungssuche. Besonders bei der Wohnungssuche sind hier wiederum Männer noch mehr benachteiligt als Frauen.
• Häufig Ausgrenzung von Nichtdeutschen und Deutschen mit Migrationshintergrund in Gruppen, Freundeskreisen, Cliquen, aber nur, wenn sie außereuropäischen Ursprungs sind
• "Migranten- und islamkritische" Argumentationslinien in Foren-Threads, auch hier
• Bis hin zu grundgesetzwidrigen Wünschen an die Politiker wie z.B. Aussortierung der Flüchtlinge (etwa in einem Flüchtlingslager in Libyen) nach mutmaßlicher "Kompatibilität" (lieber Frauen und Kinder als junge Männer, Bei den Männern nur solche mit guter Ausbildung, damit man für sie in Europa nicht noch Jahre lang Sozialleistungen zahlen muss; Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen, am liebsten völliger Aufnahmestopp. Immer weiter zunehmendes Verständnis in der Öffentlichkeit für Pegida- und AfD-Argumentationen bzgl. Islam und Flüchtlingen; man traut sich immer dreister, kulturchauvinistisch zu argumentieren; was vor 2 Jahren noch zur Sperre eines Users geführt hätte, wird heute überwiegend zähneknirschend durchgewunken, zumal die meisten neuen User extrem "islamkritisch" argumentieren. Steter Tropfen höhlt den Stein, alles Gewöhnungssache. Die rassistischen und nationalsozialistischen Ausfälle eines Höcke oder Gedeon werden mit Bedenken hingenommen, ohne dass ihnen strafrechtlich wegen Volksverhetzung groß was droht. Der Kopp-Verlag etwa darf nach Belieben veröffentlichen, was er gerade will; bis zur Zeit vor der Wiedervereinigung wäre so ein Verlag sofort "einkassiert" worden. "Compact" dard weiter seinen rassistischen Dreck veröffentlichen; indymedia wurde geschlossen.
• Der hetzerische Rassismus bis hin zu "fake reality" kann überhaupt nicht angemessen politisch und strafrechtlich verfolgt werden, das ist eine Lawine, gegen die die ganze Welt offenbar machtlos ist.
Beispiele für schweren Rassismus will ich gar nicht nennen, den kann man leicht ergoogeln; er reicht von Gewalt (schwerer Körperverletzung) über Brandstiftung bis hin zum Mord und wird zumindest strafrechtlich noch angemessen verfolgt, etwa im Vergleich zu den USA; aber wir haben ja auch eine nicht besonders ruhmreiche Vergangenheit und dürfen deshalb im Ernstfall, wenn's wirklich kritisch wird, wohl weniger als andere Nationen.
Jetzt soll ich, wenn's nach der Moderation geht, noch angeben, worüber ich speziell diskutieren lassen will. Das ist leider völlig unmöglich, denn über jeden Teil, den ich hier angerissen habe, lässt sich diskutieren, zu jedem einzelnen Punkt. Jeder Versuch die Diskussion hier in eine bestimmte Richtung zu lenken, blendet alle anderen Bereiche aus und würde die Rassismus-Diskussion verkürzen und verschmälern. Der Bereich Rassismus ist aber nun mal leider nicht schmaler als hier schlagwortartig ins Publikum geworfen.