Rechtsextremismus - Ernst der Lage so hoch wie nie
30.11.2015 um 14:14@Deepthroat23
• Juni 2007: Mitglieder einer Theatergruppe werden in Halberstadt von rechtsextremen Schlägern brutal verprügelt. Nach dem Angriff verläuft die Fahndung der Polizei offenbar zunächst schleppend. Erst wurden die Opfer verhört, die Täter ließ man laufen.
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,521102,00.html
Dennoch werden derzeit acht weitere Männer der gefährlichen Körperverletzung beschuldigt. Die Hälfte von ihnen sind Deutsche zwischen 17 und 24 Jahren, auch sie sind aus dem Ort selbst oder dem näheren Umkreis, die anderen vier sind Inder.
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,506741,00.html
Knapp drei Wochen nach der Hetzjagd auf acht Inder im sächsischen Mügeln ist nun auch eines der Opfer angezeigt worden. Der Verdacht: gefährliche Körperverletzung.
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,504223,00.html
Anstatt weiter auf dich einzugehen, drucke ich hier mal in volle Länge einen fast schon 10 Jahre alten Kommentar ab. Denn leider ist es seither nicht besser geworden, eher im Gegenteil:
SPIEGEL ONLINE - 25. August 2007, 13:36
URL: http://www.spiegel.de/politik/debatte/0,1518,501983,00.html
FOLGEN EINER HETZJAGD
Verlogene Rituale
Von Michael Kraske
Trauer und Betroffenheit werden gezeigt nach der Jagd auf acht Inder in Mügeln - aber auch feinsinnige Differenzierungen gemacht. Dies alles verstellt nur den Blick auf die nackten Tatsachen: Es war ein rechtsradikaler Angriff, solche Angriffe sind systematisch - und sie werden nicht ernst genug genommen.
Es ist ein trauriges Déjà-vu. Der Bürgermeister, der keine Rechtsextremisten in der Stadt hat. Die Polizei, die in alle Richtungen ermittelt, aber nach einigen Tagen keinen rechtsextremen Hintergrund erkennen kann. Der Ministerpräsident, der Aktivität vorgaukeln will und eine Konferenz ankündigt. Auch die Zerknirschung der Bundeskanzlerin passt zu diesem deutschen Ritual. Nach der Hetzjagd von Mügeln lässt Nebelwerferei den Blick auf Tatsachen verschwimmen, die gar nicht so kompliziert sind wie behauptet. Es gab offenbar eine Rangelei zwischen einem Deutschen und einem Inder auf der Tanzfläche des Volksfestes im sächsischen Mügeln. Ganz sicher gab es einen Mob, der die Inder durch die Stadt hetzte, nachdem diese das Fest verlassen hatten. Die ausländerfeindlichen Parolen, die vor der Pizzeria gebrüllt wurden, dürfen ebenfalls als gesichert gelten.
Man muss sich sehr wundern, wenn nach der Tat der Landespolizeipräsident Bernd Merbitz verkündet, dass die Polizei in alle Richtungen ermittle. Wenn wenig später sogar Anhaltspunkte für ein generell fremdenfeindliches Motiv für die Menschenjagd fehlen. Wenn Ministerpräsident Milbradt davor warnt, voreilige Schlüsse zu ziehen. In der Diskussion werden alle Register gezogen, das Offensichtliche wegzuinterpretieren: Acht Inder wurden gejagt und geschlagen, weil sie Inder waren. Wenn Sachsens Innenminister Buttolo ausschließt, dass eine rechte Gruppierung hinter der Gewaltorgie stehe, bedeutet das nicht, dass es keine rechte Tat war.
Es gibt seit 2001 eine neue Zählweise für rechtsextreme Straftaten. Danach soll eine Tat als politisch motivierte Kriminalität rechts (PMK-r) eingestuft werden, wenn die Straftat nicht dem Opfer persönlich gilt, sondern wenn das Opfer aufgrund seiner Gruppenzugehörigkeit etwa als Ausländer verprügelt wird. Es ist nicht anzunehmen, dass Dutzende Verfolger in den Indern persönliche Rivalen um die Schönheiten auf der Tanzfläche sahen. Die Einschätzung der Polizei vor Ort steht damit im Widerspruch zu Vorgaben des Bundesinnenministeriums.
Wenn ein Mob Ausländer angreift, ist das eine rechtsextreme Tat
Der Fall Mügeln ist typisch, was die Konfusion über die Bewertung angeht, aber auch für den Tatort und die Tat selbst. Denn auf ostdeutschen Volksfesten werden Ausländer regelmäßig Opfer rechter Gewalt. Viele, die nicht deutsch aussehen, meiden diese Feste, weil sie die Dynamik fürchten, die sich aus fremdenfeindlicher Gesinnung, Gruppen junger einheimischer Männer und Alkohol ergeben kann.
Dass sich rechte Gewalt spontan entlädt ist die Regel. Das heißt wiederum nicht, dass sie wahllos oder ideologiefrei wäre. "Eine spontane Tat spricht dafür, dass sich die Täter vorher einig werden mussten, wer der Feind ist und was zu tun ist", sagt der Koordinator der ostdeutschen Opferberatungsstellen, Dominique John. Anders ausgedrückt: Schwarze oder in diesem Fall Inder werden wie in einem Reiz-Reaktions-Schema zum Opfer, weil sie in ein klar definiertes Feindbild passen.
Es ist zwar richtig, dass Ausländerfeindlichkeit und Rassismus nur ein Baustein des Rechtsextremismus ist. Aber die Ideologie der Ungleichheit ist dessen Kern, aus dem sich die die wichtigste Forderung ergibt: Ausländer raus! Wenn also ein Mob Ausländer von einem Volksfest jagt und sie angreift, weil sie Ausländer sind, ist das eine rechtsextreme Tat, aus der spricht: Ausländer haben hier nichts zu suchen. Es ist sehr konkret und für den Augenblick eine national befreite Zone geschaffen worden in der Gewaltnacht von Mügeln.
Das ist das objektive Ergebnis. Blindes Mitläufertum spricht da nicht dagegen. Den Opfern ist ohnehin egal, ob ihnen gefestigte Rechtsextremisten mit Parteibuch entstellende Verletzungen zugefügt haben. Für sie zählt nur: Der Hass auf ihre Herkunft wurde für sie lebensgefährlich. So entstehen No-go-Areas, deren Existenz so hartnäckig bestritten wird. Jeder Ausländer wird sich künftig noch genauer überlegen, ein Volksfest in der ostdeutschen Provinz zu besuchen.
Die Nebelwerferei produziert ein gefährliches Bild: Gewalttaten wie die von Mügeln kommen danach aus dem Nichts oder allenfalls aus dem Bierglas. Dagegen spricht die Tatsache, dass es im vergangenen Jahr mit über 1000 rechten Gewaltdelikten einen neuen Höchststand in Deutschland gab. Dagegen sprechen auch die Erfahrungen der jungen Sozialarbeiter vom Projekt "Für Demokratie Courage zeigen", die in Hunderten ostdeutschen Schulklassen nicht nur die ganze Palette von Vorurteilen gegen Ausländer hören, sondern auch feststellen, dass junge, ideologisch gefestigte Neonazis in vielen Schulklassen bereits Wortführer sind, die keine abweichenden Meinungen dulden. An Berufsschulen ist das ein flächendeckendes Problem, da treten die Sozialarbeiter bisweilen vor eine geschlossen rechtsextreme Front, die sich mit modischer Kleidung von Thor Steinar und menschenverachtender Musik der verbotenen Nazi-Kultband Landser zu erkennen gibt. In Mügeln selbst mag es keine bedeutende Kameradschaft geben, aber das etwa 20 Kilometer entfernte Riesa ist eine NPD-Hochburg. Lehrer berichten von massiven Bemühungen der Rechtsextremisten, an den Schulen der Region Nachwuchs zu rekrutieren.
Der Abwehrreflex von Mügelns Bürgermeister Gotthard Deuse ist so verständlich wie fatal. Der Ablauf ist stereotyp. Nach einer rechten Gewalttat bestreitet das Stadtoberhaupt, dass es Rechtsextremismus in seiner Gemeinde gebe. Die Medienlawine lässt ihn endgültig im Bunker verharren. Außen vor bleiben rechtsextreme Einstellungen als Ursache von Gewalt.
43,8 Prozent der Ostdeutschen glauben nach einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung: "Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen." Im Westen stimmen dem 35,2 Prozent zu. Die ostdeutsche Ausländerfeindlichkeit ist ein Phantomschmerz, in vielen Regionen beträgt der Ausländeranteil mickrige zwei Prozent. Viele Ostdeutsche kennen Ausländer weder von der Arbeit noch aus dem Sportverein. Die mangelnde Erfahrung mit Ausländern und Homogenität als gesellschaftliches Ideal sind das vergiftete Erbe der ach so völkerfreundlichen DDR.
40 gewaltbereite Kameradschaften allein in Sachen
Gepaart mit Abwanderung, die junge männliche Verlierer zurücklässt, ist das die Mischung, die aus dumpfen Vorurteilen in Ostdeutschland Gewalt erzeugen lässt. Die jungen Gewalttäter fühlen sich als Speerspitze des klammheimlichen Mehrheitswillens und liegen damit mancherorts nicht mal daneben. So erklären sich die passiven Gaffer von Mügeln, die keine Hilfe herbeiriefen.
Das große Problem ist nicht, dass Politiker in Indien auf Mügeln aufmerksam geworden sind und Botschafter in Gang setzten, sondern dass es viele Mügeln gibt. Die schaffen es aber selten in die Medien. Der 27-Jährige Inder, der am 21. Juli in einer Straßenbahn in Dresden von einem Neonazi zusammen geschlagen wurde, bekam lediglich ein paar Zeilen in der Lokalpresse. Dieser ignorierte rechtsextreme Alltag ist der eigentliche Skandal.
Wenn sich bewahrheitet, dass die Täter von Mügeln keiner rechtsextremen Organisation angehören, ist das kein Grund zur Entwarnung. Vielmehr sollte beunruhigen, dass scheinbar ganz normale junge Leute bereit sind, schwerste Straftaten aufgrund einer rechten Gesinnung zu begehen. Sie sind das Rekrutierungsfeld für die Neonazis. Und die marschieren im Osten aggressiv voran, das periodische Schweigen im Blätterwald sollte darüber nicht hinwegtäuschen.
Fast 40 gewaltbereite Kameradschaften gibt es allein in Sachsen, nicht alle sind so straff organisiert wie der kürzlich verbotene "Sturm 34", der über Monate hinweg die Region um Mittweida terrorisierte. Aber Gewalt gegen Fremde und Andersdenkende gehört in diesen Gruppierungen zum festen Ritual von Abendstunden und Wochenenden. Für die Bürgermeister sind diese Neonazis heute auf den ersten Blick gar nicht mehr als solche zu erkennen, weil sie die Springerstiefel ausgezogen haben und eine perfide Doppelstrategie verfolgen: Nach außen moderat und engagiert in Fußballvereinen und Freiwilligen Feuerwehren. Im Verborgenen brutal gegen die Feinde. Parallel dazu bietet die NPD-Jugendorganisation JN ehemals freien Kameraden ein legales Dach für die rechten Aktivitäten, etwa in Sachsen-Anhalt und Sachsen.
Es ist also höchste Zeit, sich von Einzelfall-Thesen zu verabschieden und dem rechtsextremen Netz koordiniert und massiv entgegen zu treten.
Sehr zögerlich hat die SPD zunächst durch ihren Innenexperten Dieter Wiefelspütz, später durch Wolfgang Tiefensee, die zuständige Ministerin Ursula von der Leyen für ihre Politik gegen rechts kritisiert, weil die Sozialdemokraten in der Koalition einen fragwürdigen Kompromiss mitgetragen haben.
Seit Juli ist von der Leyens neue Strategie im Kampf gegen Rechtsextremismus in Kraft. Danach soll das vorhandene Geld in gleicher Weise gegen rechts wie links und auch Islamismus eingesetzt werden, was de facto eine Aufweichung des zielgerichteten Kampfes gegen den Rechtsextremismus bedeutet. Eine inhaltlich schwer zu begründende Verneigung vor der eigenen konservativen Klientel. Die neue Strategie beinhaltet auch, dass erfahrene Akteure in den Städten und Dörfern nicht mehr direkt beim Bund Geld für ihre Projekte beantragen können, sondern nur noch die Kommunen.
Das hat zur Folge, dass künftig Bürgermeister über den Fortbestand solcher Initiativen entscheiden können. Bürgermeister, die der Meinung sind, dass sie gar kein rechtes Problem haben. Statt der erfahrenen Sozialarbeiter vor Ort, die über Jahre Vertrauen aufgebaut haben, setzt von der Leyen auf mobile Kriseninterventions-Teams, was vor Ort immer wieder als Einmischung von außen empfunden wird. Krisenintervention klingt energisch, führt aber dazu, dass nicht langfristig gearbeitet wird, sondern kurzfristig. Wenn die Eingreiftruppe wieder abrückt, sind die Feuerwehren und Schützenvereine wieder dem Versuch der Unterwanderung durch rechte Kameraden ausgesetzt.
Es mangelt nicht an Gesetzen, sondern an festem Willen
Von der Leyen hat die Stärkung der Kommunen und die Schwächung der einst von Rot-Grün auf den Weg gebrachten Projekte gegen den Protest namhafter Experten wie den Politikwissenschaftlern Richard Stöss und Roland Eckert durchgeboxt. Die Politik von der Leyens spricht nicht dafür, dass sie verstanden hat, dass die Sorge von Bürgermeistern um den guten Ruf ihrer Städte ein Teil des Problems ist.
Der Kampf gegen Rechtsextremismus beginnt, wenn er denn beginnt, mit dem festen politischen Willen. Es mangelt nämlich nicht an scharfen Gesetzen, sondern an Ressourcen. Um Erfolg gegen Neonazis zu haben, müssen neben Sozialarbeitern auch Polizei, Staatsanwälte und Richter aufgeboten werden. Ohne Staatsanwälte gibt es kein Ermittlungsverfahren. Ohne Richter kein Urteil gegen rechte Straftäter. Die Stärke der Staatsschutzkammern und die Anzahl der Staatsanwälte, die gegen kriminelle Rechtsextremisten ermitteln, sind kein Naturgesetz. Nicht der klamme Haushalt sollte deren Schlagkraft bestimmen, sondern die reale rechte Gefahr. Immer wieder kommen rechte Gewalttäter allein dadurch zu einem vergleichsweise milden Urteil, dass sie lange auf ihren Prozess warten dürfen.
Überhaupt, das Strafmaß: Selbst brutalste rechte Schläger wie die Mitglieder der Skinheads Sächsische Schweiz kamen in den vergangenen Jahren mit Bewährungsstrafen davon. Abschreckend wirkt das nicht, eher ermunternd, den Kampf fortzusetzen. Oft bleiben die rechten Strukturen hinter einzelnen Gewalttaten verborgen, thematisieren die Gerichte den Alkoholpegel der Täter genauer als das tiefer sitzende politische Motiv.
Um Strukturen sichtbar zu machen, braucht es verdeckte Ermittler, Observationen und Telefonüberwachung. Das kostet Geld, aber der Staat kann sich bei Rechtsextremismus keine Dunkelziffer wie bei Delikten leisten, wo es nicht um Leib und Leben geht. Die Ermittlungen gegen die Kameradschaften Skinheads Sächsische Schweiz (SSS) und Sturm 34 haben gezeigt, dass bisweilen hinter vermeintlich singulären Straftaten sehr wohl rechtsextreme Organisationen stehen. Ermittler sprechen von der Kameradschaft als Schutzraum für Straftaten.
SSS und Sturm 34 wurden in Sachsen nach Paragraph 129 StGB als kriminelle Vereinigungen verboten. Wie ernst es den Rechtsextremisten ist und wie groß die Herausforderung für den Staat, lässt sich in der malerischen Sächsischen Schweiz beobachten. Die äußerst brutale SSS, die ihre Region von Ausländern und "linken Zecken" säubern wollte und für zahlreiche Körperverletzungen verantwortlich ist, dürfte es seit dem Verbot im Jahr 2001 eigentlich nicht mehr geben. Die Staatsanwaltschaft Dresden hat gerade gegen ein siebtes mutmaßliches Mitglied der Neonazi-Truppe Anklage wegen Fortführung einer verbotenen Organisation erhoben.
Deepthroat23 schrieb:Nenne mir einen einzigen Fall in den vergangenen 25 Jahren, in dem ein Ankläger bestraft wurde, weil er einen Rechtsradikalen angeklagt hat. Einen.• September 2006: Ein Mitarbeiter einer Initiative gegen Rechts aus Dessau zeigt auf einer öffentlichen Veranstaltung das Foto eines NPD-Aktivisten. Die Polizei nimmt daraufhin Ermittlungen gegen ihn auf wegen Verstoßes gegen das Urheberrecht.
• Juni 2007: Mitglieder einer Theatergruppe werden in Halberstadt von rechtsextremen Schlägern brutal verprügelt. Nach dem Angriff verläuft die Fahndung der Polizei offenbar zunächst schleppend. Erst wurden die Opfer verhört, die Täter ließ man laufen.
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,521102,00.html
Dennoch werden derzeit acht weitere Männer der gefährlichen Körperverletzung beschuldigt. Die Hälfte von ihnen sind Deutsche zwischen 17 und 24 Jahren, auch sie sind aus dem Ort selbst oder dem näheren Umkreis, die anderen vier sind Inder.
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,506741,00.html
Knapp drei Wochen nach der Hetzjagd auf acht Inder im sächsischen Mügeln ist nun auch eines der Opfer angezeigt worden. Der Verdacht: gefährliche Körperverletzung.
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,504223,00.html
Anstatt weiter auf dich einzugehen, drucke ich hier mal in volle Länge einen fast schon 10 Jahre alten Kommentar ab. Denn leider ist es seither nicht besser geworden, eher im Gegenteil:
SPIEGEL ONLINE - 25. August 2007, 13:36
URL: http://www.spiegel.de/politik/debatte/0,1518,501983,00.html
FOLGEN EINER HETZJAGD
Verlogene Rituale
Von Michael Kraske
Trauer und Betroffenheit werden gezeigt nach der Jagd auf acht Inder in Mügeln - aber auch feinsinnige Differenzierungen gemacht. Dies alles verstellt nur den Blick auf die nackten Tatsachen: Es war ein rechtsradikaler Angriff, solche Angriffe sind systematisch - und sie werden nicht ernst genug genommen.
Es ist ein trauriges Déjà-vu. Der Bürgermeister, der keine Rechtsextremisten in der Stadt hat. Die Polizei, die in alle Richtungen ermittelt, aber nach einigen Tagen keinen rechtsextremen Hintergrund erkennen kann. Der Ministerpräsident, der Aktivität vorgaukeln will und eine Konferenz ankündigt. Auch die Zerknirschung der Bundeskanzlerin passt zu diesem deutschen Ritual. Nach der Hetzjagd von Mügeln lässt Nebelwerferei den Blick auf Tatsachen verschwimmen, die gar nicht so kompliziert sind wie behauptet. Es gab offenbar eine Rangelei zwischen einem Deutschen und einem Inder auf der Tanzfläche des Volksfestes im sächsischen Mügeln. Ganz sicher gab es einen Mob, der die Inder durch die Stadt hetzte, nachdem diese das Fest verlassen hatten. Die ausländerfeindlichen Parolen, die vor der Pizzeria gebrüllt wurden, dürfen ebenfalls als gesichert gelten.
Man muss sich sehr wundern, wenn nach der Tat der Landespolizeipräsident Bernd Merbitz verkündet, dass die Polizei in alle Richtungen ermittle. Wenn wenig später sogar Anhaltspunkte für ein generell fremdenfeindliches Motiv für die Menschenjagd fehlen. Wenn Ministerpräsident Milbradt davor warnt, voreilige Schlüsse zu ziehen. In der Diskussion werden alle Register gezogen, das Offensichtliche wegzuinterpretieren: Acht Inder wurden gejagt und geschlagen, weil sie Inder waren. Wenn Sachsens Innenminister Buttolo ausschließt, dass eine rechte Gruppierung hinter der Gewaltorgie stehe, bedeutet das nicht, dass es keine rechte Tat war.
Es gibt seit 2001 eine neue Zählweise für rechtsextreme Straftaten. Danach soll eine Tat als politisch motivierte Kriminalität rechts (PMK-r) eingestuft werden, wenn die Straftat nicht dem Opfer persönlich gilt, sondern wenn das Opfer aufgrund seiner Gruppenzugehörigkeit etwa als Ausländer verprügelt wird. Es ist nicht anzunehmen, dass Dutzende Verfolger in den Indern persönliche Rivalen um die Schönheiten auf der Tanzfläche sahen. Die Einschätzung der Polizei vor Ort steht damit im Widerspruch zu Vorgaben des Bundesinnenministeriums.
Wenn ein Mob Ausländer angreift, ist das eine rechtsextreme Tat
Der Fall Mügeln ist typisch, was die Konfusion über die Bewertung angeht, aber auch für den Tatort und die Tat selbst. Denn auf ostdeutschen Volksfesten werden Ausländer regelmäßig Opfer rechter Gewalt. Viele, die nicht deutsch aussehen, meiden diese Feste, weil sie die Dynamik fürchten, die sich aus fremdenfeindlicher Gesinnung, Gruppen junger einheimischer Männer und Alkohol ergeben kann.
Dass sich rechte Gewalt spontan entlädt ist die Regel. Das heißt wiederum nicht, dass sie wahllos oder ideologiefrei wäre. "Eine spontane Tat spricht dafür, dass sich die Täter vorher einig werden mussten, wer der Feind ist und was zu tun ist", sagt der Koordinator der ostdeutschen Opferberatungsstellen, Dominique John. Anders ausgedrückt: Schwarze oder in diesem Fall Inder werden wie in einem Reiz-Reaktions-Schema zum Opfer, weil sie in ein klar definiertes Feindbild passen.
Es ist zwar richtig, dass Ausländerfeindlichkeit und Rassismus nur ein Baustein des Rechtsextremismus ist. Aber die Ideologie der Ungleichheit ist dessen Kern, aus dem sich die die wichtigste Forderung ergibt: Ausländer raus! Wenn also ein Mob Ausländer von einem Volksfest jagt und sie angreift, weil sie Ausländer sind, ist das eine rechtsextreme Tat, aus der spricht: Ausländer haben hier nichts zu suchen. Es ist sehr konkret und für den Augenblick eine national befreite Zone geschaffen worden in der Gewaltnacht von Mügeln.
Das ist das objektive Ergebnis. Blindes Mitläufertum spricht da nicht dagegen. Den Opfern ist ohnehin egal, ob ihnen gefestigte Rechtsextremisten mit Parteibuch entstellende Verletzungen zugefügt haben. Für sie zählt nur: Der Hass auf ihre Herkunft wurde für sie lebensgefährlich. So entstehen No-go-Areas, deren Existenz so hartnäckig bestritten wird. Jeder Ausländer wird sich künftig noch genauer überlegen, ein Volksfest in der ostdeutschen Provinz zu besuchen.
Die Nebelwerferei produziert ein gefährliches Bild: Gewalttaten wie die von Mügeln kommen danach aus dem Nichts oder allenfalls aus dem Bierglas. Dagegen spricht die Tatsache, dass es im vergangenen Jahr mit über 1000 rechten Gewaltdelikten einen neuen Höchststand in Deutschland gab. Dagegen sprechen auch die Erfahrungen der jungen Sozialarbeiter vom Projekt "Für Demokratie Courage zeigen", die in Hunderten ostdeutschen Schulklassen nicht nur die ganze Palette von Vorurteilen gegen Ausländer hören, sondern auch feststellen, dass junge, ideologisch gefestigte Neonazis in vielen Schulklassen bereits Wortführer sind, die keine abweichenden Meinungen dulden. An Berufsschulen ist das ein flächendeckendes Problem, da treten die Sozialarbeiter bisweilen vor eine geschlossen rechtsextreme Front, die sich mit modischer Kleidung von Thor Steinar und menschenverachtender Musik der verbotenen Nazi-Kultband Landser zu erkennen gibt. In Mügeln selbst mag es keine bedeutende Kameradschaft geben, aber das etwa 20 Kilometer entfernte Riesa ist eine NPD-Hochburg. Lehrer berichten von massiven Bemühungen der Rechtsextremisten, an den Schulen der Region Nachwuchs zu rekrutieren.
Der Abwehrreflex von Mügelns Bürgermeister Gotthard Deuse ist so verständlich wie fatal. Der Ablauf ist stereotyp. Nach einer rechten Gewalttat bestreitet das Stadtoberhaupt, dass es Rechtsextremismus in seiner Gemeinde gebe. Die Medienlawine lässt ihn endgültig im Bunker verharren. Außen vor bleiben rechtsextreme Einstellungen als Ursache von Gewalt.
43,8 Prozent der Ostdeutschen glauben nach einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung: "Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen." Im Westen stimmen dem 35,2 Prozent zu. Die ostdeutsche Ausländerfeindlichkeit ist ein Phantomschmerz, in vielen Regionen beträgt der Ausländeranteil mickrige zwei Prozent. Viele Ostdeutsche kennen Ausländer weder von der Arbeit noch aus dem Sportverein. Die mangelnde Erfahrung mit Ausländern und Homogenität als gesellschaftliches Ideal sind das vergiftete Erbe der ach so völkerfreundlichen DDR.
40 gewaltbereite Kameradschaften allein in Sachen
Gepaart mit Abwanderung, die junge männliche Verlierer zurücklässt, ist das die Mischung, die aus dumpfen Vorurteilen in Ostdeutschland Gewalt erzeugen lässt. Die jungen Gewalttäter fühlen sich als Speerspitze des klammheimlichen Mehrheitswillens und liegen damit mancherorts nicht mal daneben. So erklären sich die passiven Gaffer von Mügeln, die keine Hilfe herbeiriefen.
Das große Problem ist nicht, dass Politiker in Indien auf Mügeln aufmerksam geworden sind und Botschafter in Gang setzten, sondern dass es viele Mügeln gibt. Die schaffen es aber selten in die Medien. Der 27-Jährige Inder, der am 21. Juli in einer Straßenbahn in Dresden von einem Neonazi zusammen geschlagen wurde, bekam lediglich ein paar Zeilen in der Lokalpresse. Dieser ignorierte rechtsextreme Alltag ist der eigentliche Skandal.
Wenn sich bewahrheitet, dass die Täter von Mügeln keiner rechtsextremen Organisation angehören, ist das kein Grund zur Entwarnung. Vielmehr sollte beunruhigen, dass scheinbar ganz normale junge Leute bereit sind, schwerste Straftaten aufgrund einer rechten Gesinnung zu begehen. Sie sind das Rekrutierungsfeld für die Neonazis. Und die marschieren im Osten aggressiv voran, das periodische Schweigen im Blätterwald sollte darüber nicht hinwegtäuschen.
Fast 40 gewaltbereite Kameradschaften gibt es allein in Sachsen, nicht alle sind so straff organisiert wie der kürzlich verbotene "Sturm 34", der über Monate hinweg die Region um Mittweida terrorisierte. Aber Gewalt gegen Fremde und Andersdenkende gehört in diesen Gruppierungen zum festen Ritual von Abendstunden und Wochenenden. Für die Bürgermeister sind diese Neonazis heute auf den ersten Blick gar nicht mehr als solche zu erkennen, weil sie die Springerstiefel ausgezogen haben und eine perfide Doppelstrategie verfolgen: Nach außen moderat und engagiert in Fußballvereinen und Freiwilligen Feuerwehren. Im Verborgenen brutal gegen die Feinde. Parallel dazu bietet die NPD-Jugendorganisation JN ehemals freien Kameraden ein legales Dach für die rechten Aktivitäten, etwa in Sachsen-Anhalt und Sachsen.
Es ist also höchste Zeit, sich von Einzelfall-Thesen zu verabschieden und dem rechtsextremen Netz koordiniert und massiv entgegen zu treten.
Sehr zögerlich hat die SPD zunächst durch ihren Innenexperten Dieter Wiefelspütz, später durch Wolfgang Tiefensee, die zuständige Ministerin Ursula von der Leyen für ihre Politik gegen rechts kritisiert, weil die Sozialdemokraten in der Koalition einen fragwürdigen Kompromiss mitgetragen haben.
Seit Juli ist von der Leyens neue Strategie im Kampf gegen Rechtsextremismus in Kraft. Danach soll das vorhandene Geld in gleicher Weise gegen rechts wie links und auch Islamismus eingesetzt werden, was de facto eine Aufweichung des zielgerichteten Kampfes gegen den Rechtsextremismus bedeutet. Eine inhaltlich schwer zu begründende Verneigung vor der eigenen konservativen Klientel. Die neue Strategie beinhaltet auch, dass erfahrene Akteure in den Städten und Dörfern nicht mehr direkt beim Bund Geld für ihre Projekte beantragen können, sondern nur noch die Kommunen.
Das hat zur Folge, dass künftig Bürgermeister über den Fortbestand solcher Initiativen entscheiden können. Bürgermeister, die der Meinung sind, dass sie gar kein rechtes Problem haben. Statt der erfahrenen Sozialarbeiter vor Ort, die über Jahre Vertrauen aufgebaut haben, setzt von der Leyen auf mobile Kriseninterventions-Teams, was vor Ort immer wieder als Einmischung von außen empfunden wird. Krisenintervention klingt energisch, führt aber dazu, dass nicht langfristig gearbeitet wird, sondern kurzfristig. Wenn die Eingreiftruppe wieder abrückt, sind die Feuerwehren und Schützenvereine wieder dem Versuch der Unterwanderung durch rechte Kameraden ausgesetzt.
Es mangelt nicht an Gesetzen, sondern an festem Willen
Von der Leyen hat die Stärkung der Kommunen und die Schwächung der einst von Rot-Grün auf den Weg gebrachten Projekte gegen den Protest namhafter Experten wie den Politikwissenschaftlern Richard Stöss und Roland Eckert durchgeboxt. Die Politik von der Leyens spricht nicht dafür, dass sie verstanden hat, dass die Sorge von Bürgermeistern um den guten Ruf ihrer Städte ein Teil des Problems ist.
Der Kampf gegen Rechtsextremismus beginnt, wenn er denn beginnt, mit dem festen politischen Willen. Es mangelt nämlich nicht an scharfen Gesetzen, sondern an Ressourcen. Um Erfolg gegen Neonazis zu haben, müssen neben Sozialarbeitern auch Polizei, Staatsanwälte und Richter aufgeboten werden. Ohne Staatsanwälte gibt es kein Ermittlungsverfahren. Ohne Richter kein Urteil gegen rechte Straftäter. Die Stärke der Staatsschutzkammern und die Anzahl der Staatsanwälte, die gegen kriminelle Rechtsextremisten ermitteln, sind kein Naturgesetz. Nicht der klamme Haushalt sollte deren Schlagkraft bestimmen, sondern die reale rechte Gefahr. Immer wieder kommen rechte Gewalttäter allein dadurch zu einem vergleichsweise milden Urteil, dass sie lange auf ihren Prozess warten dürfen.
Überhaupt, das Strafmaß: Selbst brutalste rechte Schläger wie die Mitglieder der Skinheads Sächsische Schweiz kamen in den vergangenen Jahren mit Bewährungsstrafen davon. Abschreckend wirkt das nicht, eher ermunternd, den Kampf fortzusetzen. Oft bleiben die rechten Strukturen hinter einzelnen Gewalttaten verborgen, thematisieren die Gerichte den Alkoholpegel der Täter genauer als das tiefer sitzende politische Motiv.
Um Strukturen sichtbar zu machen, braucht es verdeckte Ermittler, Observationen und Telefonüberwachung. Das kostet Geld, aber der Staat kann sich bei Rechtsextremismus keine Dunkelziffer wie bei Delikten leisten, wo es nicht um Leib und Leben geht. Die Ermittlungen gegen die Kameradschaften Skinheads Sächsische Schweiz (SSS) und Sturm 34 haben gezeigt, dass bisweilen hinter vermeintlich singulären Straftaten sehr wohl rechtsextreme Organisationen stehen. Ermittler sprechen von der Kameradschaft als Schutzraum für Straftaten.
SSS und Sturm 34 wurden in Sachsen nach Paragraph 129 StGB als kriminelle Vereinigungen verboten. Wie ernst es den Rechtsextremisten ist und wie groß die Herausforderung für den Staat, lässt sich in der malerischen Sächsischen Schweiz beobachten. Die äußerst brutale SSS, die ihre Region von Ausländern und "linken Zecken" säubern wollte und für zahlreiche Körperverletzungen verantwortlich ist, dürfte es seit dem Verbot im Jahr 2001 eigentlich nicht mehr geben. Die Staatsanwaltschaft Dresden hat gerade gegen ein siebtes mutmaßliches Mitglied der Neonazi-Truppe Anklage wegen Fortführung einer verbotenen Organisation erhoben.