@kakaobart Ich glaube die Besonderheit an der abendländischen Kultur ist ihr einzigartiges Verhältnis zu ihrer christlichen Identität.
Es geht also weniger um ein Christentum vs. Islam....es geht um eine moderne Auffassung von Religion vs. religiöser Dogmatismus.
Du machst den gleichen Fehler wie die Christlich-Konservativen, dass du eine Kultur postulierst, die es nur in deinem Wunschbild gibt. Die Christlich-Konservativen sehnen sich nach einer Kultur, wie sie ihrer Meinung nach im 16., 17. und 18. Jahrhundert bestand, als es noch keinen Marx und Nietzsche gab, die Gott für tot erklärten. Und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem Kemal Atatürk die Türkei deislamisierte und zu einem Staat umwandelte, in dem der Islam Privatsache war, und die Türkei so mit einem einzigen gigantischen Schritt aus dem Mittelalter in die Moderne führte, auch wenn der Weg danach wieder rückläufig wurde und Erdogan wohl der reaktionärste Staatschef der modernen türkischen Ära ist.
Die deutschen Erzkonservativen erkennt man an ihrem Staatsduktus, dass sie Begriffe verwenden, die vor der letzten Phase der Aufklärung (im 19. Jahrhundert) üblich waren. Der typischste Begriff ist "Abendland". Spätestens seit 1918 spricht man nicht mehr von Abendland, sondern vom "Westen". Das ist zwar inhaltlich mehr oder weniger identisch, denn "Westen" kann man auch als Übersetzung von Abendland verstehen. Der Unterschied ist, dass "Abendland" allein christlich gedacht werden kann – das Christentum als Staats- oder Volksreligion ist in ihm gleichsam integriert, ohne eigens noch erwähnt werden zu müssen, von daher ist die Bezeichnung "christliches Abendland" eigentlich doppelt gemoppelt – während "Westen" der moderne, säkularisierte, laiszistische Begriff ist. "Westliche Kultur" bedeutet das kulturelle Selbstverständnis moderner Menschen in freien, offenen Gesellschaften mit demokratischen Staatsformen.
Abendland wiederum ist ein Selbstverständnis, das einerseits christlich hergeleitet ist – und damit alle Nichtchristen, also Atheisten ebenso wie Muslime, Juden, Buddhisten etc. a priori ausschließt –, ist, wie du selbst zutreffend formulierst, sein "einzigartiges Verhältnis zur christlichen Identität". Gleichzeitig ist es, um es freundlich auszudrücken, politisch ambivalent; schärfer formuliert: vordemokratisch, denn jeder und alle, die über das "Abendland" schrieben und philosophierten, hatten mit der Demokratie nichts zu tun, da sie in einem nicht demokratischen Staat lebten. Zudem ist "Abendland" ein deutscher Begriff, für den es in anderen Sprachen keinen adäquaten Ausdruck gibt, am ehesten noch im Französischen ("occident"). In (westlichen) Demokratien taucht dieser Begriff nur noch in "Randwelten" auf, allgemein spricht man vom "freien Westen", wenn man sich gegen die anderen Kulturräume, in denen Demokratie weniger zählt, absetzen will. Der letzte, der noch zu einem Begriff Abendland schrieb, war der antidemokratische Kulturphilosoph Oswald Spengler, der sein berühmtes Buch "Der Untergang des Abendlandes" während des 1. Weltkriegs verfasste und der nicht nur die Nazis stark beeinflusste, sondern die gesamte Rechte bis in die heutige Zeit, zuletzt Pediga, die ihr "Abendland" gegen "den Islam" verteidigen wollen.
Auch hier wieder die religiöse Hauptkomponente, obwohl die Pedigasten wohl in der überwiegenden Mehrheit de facto genauso ungläubig sind wie normale Menschen hierzulande, auch wenn viele noch als christlich registriert sind und ab und zu in die Kirche gehen, aber weder christlich denken noch handeln. Es ist vielmehr ein Kampfbegriff geworden, ist aber gleichzeitig einfach die Sehnsucht nach einer rückwärtsgerichteten Kultur von vorgestern, in der die Moderne noch keinen Einzug gehalten hatte und auch der böse Kapitalismus noch nicht existierte. Es ist die Idylle einstiger Naziträumer, die ein "germanisches" Abendland vom Atlantik bis zum Ural fantasierten, ohne Russen, Polen, Juden und "Muselmännern", ein landwirtschaftliches, bukolisches, vorindustrielles, in dem der Mensch in Einklang mit der Natur leben und die blonden und blauäugigen Männer und Frauen in strikter Monogamie leben nach dem Leitsatz: der Mann an die Maschine, die Frau an den Herd. Ein Abendland, in dem nur Deutsch gesprochen wird.
"Abendländische Kultur" ist, kurz gesagt, dass Traumeldorado des deutschen Spießers, das nicht das Geringste mit der heutigen Realität zu tun hat. Was die Ufos für die Ufologen hier sind, ist das christliche Abendland für den deutschen Spießer. In diesem Traumreich gibt es keine emanzipierten Frauen, keine Ausländer, keine Juden, keine Muslime, nur Christen, so wie sie sich einen Christen vorstellen, eben einen germanischen.