trimeresurus schrieb:Kultur (Umfeld) + Erlebtes (abhängig vom Umfeld) + Genetik = Individuum.
Nee, so einfach ist das nicht. Kultur ist System (unabhängig von individuellen Einstellungen) + Verinnerlichtes (Indoktrination = in etwa Sozialisation). Erlebtes ist die jeweilige Summe aus der Erfahrung mit der sozialen Umwelt = Identitätsbildung, wozu aber eben auch Kultur + Verinnerlichtes (s.o.) gehört. Genetik ist ein biologisches (Sub-) System und gehört in diese Reihe eigentlich gar nicht rein, d.h. ein Aborigin, der in Deutschland geboren wird und hier aufwächst, unterliegt den gleichen o.b. Mechanismen. Interessant wird die Genetik nur im Hinblick auf ihn als Opferrolle, da er (der Aborigin) einem zusätzlichen Stress mit seinem sozialen Umfeld untertworfen ist, dem ein genetischer Mitteleuropäer nicht in diesem Maß ausgesetzt ist.
trimeresurus schrieb:Nein. Wir folgen immer der kollektiv etablierten Moralvorstellung. Wir kennen unsere Führer nur nicht mehr.
Man muss die Führer nicht kennen. Und mit der Moral ist es so, dass es stets eine doppelte ist. Die, von der man weiß, dass sie erwünscht ist, und die persönliche, die damit nicht identisch ist und die man bevorzugt, weil sie auf den ersten Blick mehr Freiräume schafft und notswendig ist für die Karriere. Also ist die "kollektiv etablierte Moralvorstellung" eine reine Sonntagsmoral, die man als Monstranz vor sich her trägt und hinter der man die persönliche Moral, die dieser offiziellen widerspricht, gut verstecken kann. Wer diesen Kunstgriff nicht beherrscht, gehört schnell zu den Losern und darf sich seine Lohntüte beim Jobcenter als Hartz 4 abholen, Monat für Monat, als nicht oder nur schlecht zu Vermittelnder.
trimeresurus schrieb:Es kommt immer darauf an, wer die Vorgaben macht. Das hat sich geändert. Es war mal der König, dann wars die Kirche, zwischendrin waren es die Nationalsozialisten. Wer ist es jetzt?
Ich würde sagen die Popstars aus Wirtschaft, Film + Fernsehen, Musik und Fußball. Also die Supererfolgreichen, zu denen man sehr gern selbst gehören würde, da man aber weiß, dass man i.d.R. nicht zu ihnen aufschließen kann, sie zumindest als Fan verehrt.
trimeresurus schrieb:Humanismus ist nur eine Idee. Er kommt dir sinnvoll vor, weil du nach dessen Maßstäben erzogen wurdest. Das ist ja nichts Schlimmes.
Auch, wenn ich den modernen Humanismus nicht mag.
Das sehe ich anders. Humanismus ist eine der ganz wenigen modernen Werte, dem eigentlich universale Geltung zusteht, falls wir eine menschliche, nachhaltige Welt ohne Krieg und andere globale Probleme haben wollen. Der Umstand, dass wir sehr weit davon entfernt sind, beweist, dass wir fast durchweg nur falschen, o.a. Pseudowerten, die wichtig sind für eine Karriere und überhaupt fürs Überleben auf der Sonnenseite, anhängen, und markiert die Weglänge, die noch vor uns liegt, um Humanismus weltweit Geltung zu verschaffen, wollen wir nicht als gescheiterte Spezies untergehen..
trimeresurus schrieb:Gleichberechtigung ist eine Idee unserer Zeit. Das bedeutet nicht, dass ich dagegen bin. Aber es IST eine Ideologie, keine Naturgegebenheit.
Vielleicht markiert sozialer und kultureller Fortschritt ja gerade den Jahrtausend alten langen steinigen Weg vom Naturrecht über die Ideologien und Religionen hin zu selbstbestimmten universalistischen Werten und Rechten, die mit der Aufklärung begannen und noch längst nicht abgeschlossen sind, zumal man sehrt schnell in der Entwicklung wieder Jahrhunderte zurückfallen kann in die Barbarei, wie wir aus unserer eigenen Geschichte der 1. Hälfte des letzten Jahrhunderts wissen. Was heutzutage die soziale und kulturelle Entwicklung aber beschleunigen könnte, wäre ein nicht dirigistisches Internet und eine soziopolitische Schulerziehung nach dem aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnisstand. Aber selbst dies zu realisieren ist eine vor uns liegende Jahrzehnt-Aufgabe. leider gibt es neben wichtigen Medien, zu denen ich die öffentlich-rechtlichen und einige herausragende private zähle, leider in zehnfacher Menge absoluten Schrott, der von den meisten bevorzugt wird, da er nicht eine so geistige Anstrengung verlangt und die Welt schön einfach und falsch erklärt.
trimeresurus schrieb:Migration ist ein schwieriges Thema, bei dem es meiner Meinung nach keine schöne Lösung gibt. Im Moment bezahlen wir die Türkei, damit sie uns mit Selbstschussanlagen die Flüchtlinge von Leib hält. Ist das denn weniger menschenverachtend als einen Zaun zu bauen?
Nein, es ist beides die gleiche Scheiße, der Türkeideal dazu noch die unehrlichere.
trimeresurus schrieb:Menschlichkeit ist immer nur Maskerade, mehr nicht.
Nicht immer, wirklich nicht immer. Die schwere Kunst ist, Menschlichkeit von "Menschlichkeit" zu unterscheiden. Das geht nur durch extrem genaue Analyse der Aussage/Tat in seinem jeweiligen Kontext. Ist aber notwendig, um fake von real unterscheiden zu können, was uns aufs Verrecken gelingen muss, um nicht früher oder später als Gesellschaft zu verrecken. Dazu muss man allerdings auch lernen mit Informationsmassen zu arbeiten, die ein menschliches Gehirn nahezu zu überfordern scheinen. Hierin sehe ich das größte Problem, denn es ist schlicht unmöglich die Informationsmenge mit selbst gebastelter Software so zu reduzieren, ohne dass die Information selbst an Qualität einbüßt. Grenau das - reduzierte Komplexität der Information - wäre aber nötig, um in der Informationsflut nicht zu ersaufen, noch ehe man darauf eivgene Kommunikations- und Handlungssysteme aufbauen kann, die helfen, Menschlichkeit stett "Menschlichkeit" zu produzieren. Es wäre aber exctrem wichtig das richtig hinzukriegen, da wir in einer Kopierwelt leben.
trimeresurus schrieb:Die Variabilität des Individuums wird kulturell vorgegeben.
Dieses Argument enttäuscht mich jetzt aber wirklich, denn weiter oben (erstes Zitat) schriebst du noch etwas zwar auch Falsches, aber dennoch Klügeres. Die kulturelle Vorgabe ist nur eine von mehreren Einflussfaktoren bei der Identitätsbildung. Lebten wir nur nach kulturellen Vorgaben, wären wir allesamt ununterscheidbare kulturelle Roboter.
trimeresurus schrieb:Es gibt keinen echten Altruismus, außer vielleicht den Biologischen, der zur Erhaltung der Gene dient.
Da bin ich zwar, obwohl ebenfalls Zyniker, auch anderer Ansicht, kann das aber auf die Schnelle ebenso wenig belegen wire du deine Ansicht. Dieser Punkt wäre aber geeignet für einen eigenen Thread.
Alles in allem: Ich fand deine Beiträge, auch wenn sie meiner eigenen Sicht der Dinge nahezu antagonistisch entgegen stehen, aber inspirierend, weshalb ich auch etwas näher drauf eingegangen bin. Auf so einer Basis lässt sich, auch wenn ich zuletzt kaum noch geglaubt hatte, dass es möglich sei, vortrefflich diskutieren.