ZwischenfazitEs gibt also drei Stufen der interkulturellen Begegnung oder des kulturellen Aufeinandertreffens oder Aufeinanderprallens, die ich so anordne, wie sie sich manifestieren: Basis (unten) und Überbau (oben):
- verschiedene kulturelle Lebensweisen
- kulturelle Werte
- Normen (Verfassung und Gesetze)
Fangen wir ganz unten an bei den Normen. Zu den verfassungsmäßigen
Normen gehören jene Werte, die einige Verfassungen wie z.B. (glaube ich) die amerikanische und die französische Verfassung eigens benennen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (fraternité) und in der US-Verfassung noch mal eigens die Verfolgung eigenen Glücks (pursuit of happiness). In allen Verfassungen sind die Menschenrechte in Form von Artikeln aufgelistet und näher beschrieben (Menschenwürde, Versammlungsrecht, Redefreiheit, Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit, Reisefreiheit, Asylrecht, materielles Recht (Sicherheit des sozioökonomischen Existenzminimums), Gleichbehandlung der Ethnien, Geschlechter und Religionen etc.). Zu den Gesetzen, die ebenfalls von allen beachtet werden müssen, gehören das bürgerliche Recht mit all seinen Unterabteilungen, das Strafrecht, Staatsrecht, Völkerrecht etc.
Diese Normen, die die Grundlage einer jeden freiheitlichen Zivilisation ausmachen, sind unverhandelbar und für Migranten genauso bindend wie für Einheimische.
Schwieriger wird schon der "Mittelbau" der
kulturellen Werte, der sich nicht grundlegend und allgemein festlegen lässt und daher größeren Interpretationsspielraum lässt, so dass er für Leute mit verschiedener moralischer/ethischer und politischer Einstellung verschieden beschrieben und gewertet werden dürfte. Sie stellen quasi ein Bindeglied zwischen Basis (Normen) und Überbau (Lebensweise in der Öffentlichkeit) dar. Die kulturellen Werte des Westens sind historisch aus der Aufklärung ableitbar und insgesamt umfassender als die verfassungsmäßigen Grundrechte, dafür aber auch diffuser und nicht einklagbar, da nicht an Normen gebunden. Wie schon in den Verfassungen genannt gehören hierzu Grundwerte (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), insbesondere aber auch nähere Ausführungen zur Gleichbehandlung der Ethnien, Geschlechter und Religionen und der damit verbundenen
Chancengleichheit, die mir hier in Deutschland viel zu kurz kommt. Ich denke da insbesondere an die Chancengleichheit zwischen Einheimischen und Zugereisten in den existenziell wichtigen Bereichen Wohnungsmarkt und Arbeitsmarkt; hier haben leider Zugereiste und Deutsche mit ausländischen und insbesondere die mit türkisch und arabisch klingenden Nachnamen nachweisbar signifikant schlechtere Chancen als "Biodeutsche".
Womit wir im kern des Problems wären, das "wir" mit unseren "ausländischen Mitbürgern" haben: Dass wir offenbar kulturelle werte und insbesondere Grund- und Menschenrechte nicht gleichmäßig verteilen, sondern den Biodeutschen Vorteile und Privilegien einräumen im Vergleich zu Leuten "mit Migrationshintergrund" und im Grunde genommen eine rassistische Zweiklassengesellschaft haben. Das sind enorme und teilweise extreme zivilisatorische Defizite.
Die Frage wäre nun, inwieweit diese Klassendichotomie, die dem indischen Kastensystem fast aufs Haar gleicht, nur dass es sich bei uns nur um 2 "Kasten" handelt, mit einer Zivilisation und mit einem sozialen Rechtsstaat vereinbar ist. Ich würde sagen: gar nicht. Meine These ist, dass es genau dieses Kastensystem ist, das deutschfeindliche Einstellungen der Migranten und Gewaltkriminalität fördert und teilweise sogar provoziert. Erweitern ließe sich die These, bezogen auf den Westen generell, auf den Terrorismus: dass dies der möglicherweise grundlegende Motivator für islamistischen Terrorismus in Europa (und abgeschwächt in den USA) ist. Begründet wird er zwar religiös (daher das "islamistisch"), aber die Ursachen liegen wohl tiefer, nämlich darin, dass sich die westliche Zivilisation für was Besseres hält und hierdurch mit der arabischen Welt in Konflikt gerät. Warum nicht mit der ostasiatischen Welt und der Welt Schwarzafrikas, lässt sich relativ leicht erklären: Die ostasiatische Welt wurde nur teilweise und relativ kurz kolonialisiert (etwa Südostasien durch die Franzosen und Indonesien durch die Niederlande), hat sich aber inzwischen wirtschaftlich so weit emanzipiert, dass sie in direkte Konkurrenz zum Westen treten kann (China, Japan, Südkorea, Singapur). Afrika wiederum ist zu schwach, um sich kulturell feindlich gegen den Westen zu stellen, zumal zerrissen zwischen (noch) etwa gleichgroßen Anteile an Christen und Muslimen.
Wir sehen also, dass es sich bei diesem Bereich "kulturelle Werte" gleichsam um das "Schlachtfeld" zwischen christlich geprägtem - obwohl de facto längst überwiegend atheistischen - Westen ("Okzident") und islamisch geprägtem Osten ("Orient") handelt, genau der Ebene, auf die auch Huntington seinen "clash of civilizations" verortet. Dieser Konflikt nimmt bisweilen Züge eines Religionskriegs an, obwohl der Westen mit Religion längst so gut wie gar nichts mehr am Hut hat. Aber es geht eben um die Lebensweise und betrifft damit den Überbau und ist daher gesellschaftspolitisch so brisant. Zumal dieser Teil die Integrationsfrage berührt. Schwere Defizite für die Integration hat der Westen also in diesem "Mittelbau" durch seine "Zweikastengeselllschaft", die dazu führt, dass selbst längst in der 2. oder 3. Generation hier lebende Deutsche mit Migrationshintergrund weiterhin in existenziell entscheidenden Bereichen wie in der Arbeitswelt und bei der Wohnung als Menschen zweiter Klasse behandelt werden und "wir" damit permanent gegen den grundlegenden kulturellen Wert der Gleichheit verstoßen. Die Defizite des "Orients" und der Integrationsproblematik seiner Mitglieder hier im Westen zeigen sich hingegen eher im Überbau, also der Spitze des Konstrukts.
Womit wir beim Überbau wären, den verschiedenen
Lebensweisender christlich und islamisch geprägten Bürger. Anders als die Damen und Herren aus der Politik glaube ich, dass das "Integrationsproblem", wenn man es als bilaterales versteht, im "Mittelbau" zu suchen ist, wie ich eben skizziert habe. Der "Überbau" betrifft eher individuelle Verhaltenskodizes, wie sie Maiziere in seinen 10 Geboten gottgleich formuliert hat ("Leitkultur": "Wir sind nicht Burka" usw.).
Hier geht es ausschließlich um
Anpassung der Muslime an die westliche Lebensweise (und nicht wie falsch berichtet, an die "westliche Wertegemeinschaft", denn das betrifft den bereits abgehandelten Mittelbau), sondern um so profane Dinge wie Burkastreit, Handschlag oder Wangenkuss, Moscheenstreit, Beschneidung, Frage nach einem islamischen Feiertag, etc.). Hierzu gehört nicht die Frage der Gleichberechtigung und Gleichbehandlung der Geschlechter, diese gehört in die Kategorie kulturelle Werte, also ebenfalls zum Mittelbau. Selbstverständlich müssen die Geschlechter gleich behandelt werden, hier haben die Muslime eine Lernschuld. Aber ansonsten betrifft dieser Bereich, in dem sich fälschlicherweise die heißesten Diskussionen entzünden, weil er emotional so aufgeladen ist, eigentlich nur verschieden geprägte Lebensweisen, die in Maizieres Pamphlet zu Benimmregeln geronnen sind, mit denen er den Migranten Vorschriften zu machen versucht, wie diese zu leben hätten. Immerhin war er nicht so selbstherrlich, auch noch den Muslimen deutsche Essgewohnheiten mit Schweinefleisch als verbindlich vorschreiben zu wollen. Das die "muslimische Lebensweise" aber weder gegen grundlegende Normen und Gesetze verstößt noch - mit Ausnahme der Ungleichheit der Geschlechter - kulturelle zivilisatorische Werte in Frage stellt, betrifft die verschiedene Lebensweise nur Grade der Freiheit, die der Westen aushalten muss und die er auch nicht in Form von Benimmregeln einschränken und anderen aufoktroyieren kann, um nicht als postkolonialistischer Missionar in der Rolle des Oberlehrers für andere Kulturen gutsherrisch gegenüber Migranten aufzutreten. Die Mitglieder anderer Kulturen und Religionen sind schließlich keine Kinder, die zum rechten verhalten und zum rechten Glauben erzogen werden müssten. Das sind noch autoritäre Relikte bei Maiziere & Co., die wir eigentlich "nach 68" überwunden gehabt glaubten, aber offenbar leben sie zäh in bestimmten Bevölkerungsschichten weiter.