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Die Durchstarter aus dem OstenRussischstämmige Einwandererkinder haben bei der Integration die Nase vorn – weil Bildung für sie alles ist, was zählt.
Nowotscherkassk, jene russische Kleinstadt 200 Kilometer nahe der Grenze zur Ukraine, fühlt sich Lichtjahre entfernt an in der Wohnung der Kuksins in Ohlsdorf. Eine Packung russische Pralinen liegt auf dem Sofatisch. Sie ist das Einzige, was an die Heimat erinnert. Noch bis vor acht Jahren war dies für Sachar (21) und Alissa (20) Russland. Wenn sie erzählen, fällt vor allem eins auf: Beide sprechen fließend und akzentfrei Deutsch. Sachar macht gerade Abitur, seine Schwester Alissa hat ihn um ein Schuljahr überholt und absolviert gerade eine Ausbildung zur Bankkauffrau und Betriebswirtin.
Die Geschwister sind ein gutes Beispiel für eine ganze Generation von jungen aus Russland eingewanderten Deutschen. Die meisten von ihnen sind Aussiedler, sie machen die größte Migrantengruppe in Deutschland, so auch in Hamburg, aus. Allein in Hamburg leben etwa 50.000 Spätaussiedler und ihre Angehörigen. Über sie war bisher wenig bekannt, weil sie sofort einen Anspruch auf einen deutschen Pass haben und lange statistisch nicht als mehr als einzelne Gruppe zu identifizieren waren. Eine Studie des Berlin Instituts hat erstmals auch die Gruppe der Aussiedler mit in die Untersuchungen eingeschlossen. Sie kommt zu dem Schluss, dass sich russischstämmige Kinder und Jugendliche sehr viel besser in Deutschland zurechtfinden als ihre Altersgenossen aus anderen Herkunftsländern – etwa die Türken, die die zweitgrößte Einwanderergruppe darstellen.
So ist die Gruppe von Schülern mit Hochschulreife, die aus Russland stammen, mit knapp 40 Prozent doppelt so groß wie etwa die der türkischen Einwanderer. Dasselbe gilt für den Anteil der Akademiker. Im Umkehrschluss ist die Gruppe jener, die keinen Schulabschluss haben, mit etwa drei Prozent sehr gering im Vergleich zu den Türken, deren Anteil hier über 30 Prozent liegt. Zudem ist die Erwerbslosenquote bei Russischstämmigen halb so hoch wie bei den Türken.
Entscheidend für ihre gute Entwicklung sei ihr hoher Bildungsstand, sagt Dr. Olga Diewold, russisch-deutsche Kulturvermittlerin an der Adolph-Diester-Weg-Schule in Allermöhe. „Das leistungsorientierte Schulsystem in Russland und der hohe Stellenwert von Bildung allgemein führen dazu, dass die Kinder über ein sehr breites Vorwissen verfügen.“ Trotz Sprachschwierigkeiten finden sie in der Schule schnell den Anschluss. Neben zusätzlichen von der Behörde finanzierten Sprachkursen, die etwa Aussiedler in Anspruch nehmen können, sei es vor allem das jahrzehntelange Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland, das den Ansporn auslöst.
Die 47-Jährige kennt das aus eigener Erfahrung: Deutsch kannte sie von ihrer Großmutter, die daheim im stillen Kämmerlein in Kasachstan Deutsch sprach und mit der Enkeltochter deutsche Weihnachtslieder sang. Vor 15 Jahren kam die studierte Soziologin nach Hamburg. Seit 2004 vermittelt sie im Auftrag der Schulbehörde zwischen russischen Eltern und deutschen Lehrern. „Die meisten Eltern kommen zu mir und fragen mich, warum die Kinder so wenig Hausaufgaben aufhaben, sie sorgen sich, dass ihre Kinder nicht genug lernen“, erzählt sie. Und so besteht ihre Arbeit zu einem Großteil darin, den Leistungsdruck der ehrgeizigen Eltern zu bremsen.
Sachar und Alissa Kuksin waren 13 und zwölf Jahre alt, als ihre Mutter einen Deutschen heiratete und mit den Kindern zu ihm nach Hamburg zog. Sie zählen somit nicht zur klassischen Aussiedlergruppe, haben aber trotzdem eine rasante Entwicklung hingelegt: Beide wechselten nach wenigen Wochen von der Realschule aufs Gymnasium und wurden trotz anfänglicher Sprachschwierigkeiten zu Musterschülern. Ihre Mutter arbeitet als Lehrerin. „Die Perspektiven, die wir in Hamburg haben, hätten wir in Russland nie gehabt“, sagt Sachar. Deswegen bauen beide auch in Zukunft auf Deutschland. Zurück nach Nowotscherkassk zu gehen, können sie sich nicht mehr vorstellen.
Zurück nach Orsk, eine Stadt im Südural, will auch Inna Rempel nicht. „Jetzt, wo ich so viel erreicht habe, kann ich nicht mehr zurück“, sagt sie. Seit fünfeinhalb Jahren wohnt sie mit ihrer Familie in Hamburg. Die Aussiedler warteten zehn Jahre auf die Papiere, um nach Deutschland zu kommen. Inna, damals 17 Jahre, hatte gerade mit dem Studium angefangen. In Deutschland hieß es erst mal, wieder zur Schule gehen.
Die 22-Jährige ist ein wahres Organisationswunder: Sie gibt Tanz- und Musikunterricht, engagiert sich für den Verband der russischsprachigen Jugend in Deutschland und macht nebenbei ihr Abitur. Natürlich will die 22-Jährige auch studieren. Und stellt fest: „In Russland wäre ich jetzt schon längst mit dem Studium fertig, das bringt meinen Lebensplan mit Familiegründen und Kinderkriegen ganz schön durcheinander“, sagt sie und lacht. Aber dann, fügt sie hinzu, verschiebt sie das eben auf später.