Unruhen in der Ukraine
03.06.2014 um 09:59
Protest vor dem Hauptstadtbüro der ARD:
Das Erste berichtet im Ukraine-Konflikt »einseitig, parteiisch, unwahr oder halbwahr«
Christian-Ditsch.de
Am Wochenende sind in rund 30 Städten der BRD mehrere tausend Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Gewalteskalation in der Ukraine und die antirussische Stimmungsmache in den großen Medien zu protestieren. In Berlin führte die Demonstration am Hauptstadtstudio der ARD vorbei, wo Eckart Spoo die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Sender und namentlich den dafür verantwortlichen Chefredakteur Kai Gniffke kritisierte. jW dokumentiert seine Rede leicht gekürzt.
Die öffentlich-rechtlichen Anstalten erhalten von uns Milliardenbeträge (siebeneinhalb Milliarden im Jahr), damit Sie uns zutreffend und umfassend informieren. Aber die Informationen, die Sie uns aus der Ukraine liefern, sind einseitig, parteiisch, unwahr oder halbwahr, was noch gefährlicher ist.
Wir haben solche Erfahrungen schon in früheren Kriegen gemacht, zum Beispiel vor 15 Jahren im Bombenkrieg der NATO gegen Jugoslawien und später im Irak und in Afghanistan. Erst anderthalb Jahre nach dem sogenannten Kosovo-Krieg brachte die ARD eine Sendung des Westdeutschen Rundfunks mit dem Titel »Es begann mit einer Lüge«. Da wurde dann nicht nur eine Lüge eingestanden, sondern ein dickes Bündel von Lügen. Es wurde klar, daß wir Zuhörer und Zuschauer während des ganzen Krieges und schon vorher und noch lange nachher belogen und betrogen worden waren. Die ARD und andere Medien hatten kritiklos die Kriegspropaganda der Bundesregierung und der NATO übernommen und verbreitet. Herr Gniffke, wir möchten bitteschön nicht wieder anderthalb Jahre auf die Wahrheit warten müssen.
Wir sind auf zutreffende, umfassende Berichterstattung der Medien angewiesen, wir müssen zuverlässig informiert sein, wenn wir demokratisch mitreden, mitentscheiden wollen. Wenn aber neben der geifernden Springer-Presse auch die öffentlich-rechtlichen Anstalten uns irreführen, kann Demokratie nicht gedeihen.
Ein besonders übles Beispiel haben Sie uns Anfang Mai geliefert beim Mord an mehr als 40 Menschen im Gewerkschaftshaus in Odessa. Es gab eindeutiges Bildmaterial. Es war klar, wie das Gebäude mit sogenannten Molotowcocktails in Brand gesetzt worden war, wie die brennenden und erstickenden Menschen gehindert worden waren, sich zu retten, und wer das getan hatte. Sie aber verschleierten das Verbrechen mit den Worten, da sei ein Gebäude »in Brand geraten« – als hätte jemand vergessen, vor dem Einschlafen seine Zigarette auszudrücken oder als wäre eine Sicherung durchgebrannt. »In Brand geraten« – solche Verschleierung ist publizistische Beihilfe zum Massaker.
In den Medien setzte sich dann die Sprachregelung durch, der Fall sei noch nicht geklärt. Aber wenn da wirklich noch Klärungsbedarf bestanden hätte, wäre das kein Grund gewesen, auf weitere Berichterstattung zu verzichten – im Gegenteil, dann hätten Sie eben zur Klärung beitragen müssen. Recherche nennt man sowas, was man eigentlich von Journalisten erwartet. Was taten Sie statt dessen? Ebenso wie die Bild-Zeitung, dieses Spitzenprodukt des deutschen Journalismus, gaben auch Sie, die ARD, ausgerechnet Arseni Jazenjuk das Wort, dem Putschpremier. Bild ließ überhaupt niemand anderen zu Wort kommen als Jazenjuk, der prompt Moskau für das Massaker verantwortlich machte. Moskau muß ja an allem schuld sein. Auf drei Sätze von Jazenjuk beschränkte sich die gesamte Berichterstattung der Bild-Zeitung am 5. Mai über das grauenvolle Geschehen in Odessa.
Herr Gniffke, hat die ARD wirklich keine eigenen Recherchen unternommen? Nein? Dann sollten Sie sich schämen!
Vielleicht erschien Ihnen der Fall nicht so wichtig. Aber was erscheint Ihnen überhaupt wichtig? Der Terror gegen linke Parteien und Abgeordnete in Kiew – was haben Sie darüber berichtet? Die offen faschistischen Kräfte, die sich auf dem Maidan mit Gewalt gegen friedliche Demonstranten durchsetzten – offenbar kein Thema, das Sie sonderlich interessiert hätte. Die Gründe, warum sich nach dem Putsch in Kiew 90 Prozent der Menschen in der Ostukraine für Autonomie entschieden – hätte man den Gründen nicht mal nachgehen müssen? Sie verbreiteten allerlei Andeutungen über russische Einmischung – aber als die zuständige Direktorin des US-Außenministeriums, Victoria Nuland, offen ausplauderte, für den Umsturz in der Ukraine seien aus Washingon fünf Milliarden Dollar geflossen, wäre es da nicht dringend notwendig gewesen, aufzuklären, wofür diese immense Summe ausgegeben worden ist? Haben Sie sich jemals dafür interessiert, wer hinter dem Ukrainian Crisis Media Center (UCMC) steckt, das im Kiewer Hotel Ukraina die dort untergebrachten Journalisten aus aller Welt mit Gesprächspartnern, Informanten, Desinformanten versorgt?
Jetzt beteiligen Sie sich am Gerede vom »runden Tisch« – obwohl der »runde Tisch« gar nicht rund ist, denn die Putschisten in Kiew verweigern den Vertretern der nach Autonomie strebenden Ostregionen den Zutritt. In Nachrichtensendungen mehrerer ARD-Anstalten hörte ich dann: Die Vertreter der Separatisten nehmen nicht teil. Das ist üble Irreführung der Öffentlichkeit, üble Kriegspropaganda. Wenn eine der beiden Konfliktparteien nicht zu Verhandlungen zugelassen wird, dann dienen diese Verhandlungen nicht dem friedlichen Interessenausgleich, sondern der Vorbereitung einer sogenannten militärischen Lösung, also zur Vorbereitung des Krieges, den westukrainische Einheiten jetzt schon mit Panzern und Kampfhubschraubern in der Ostukraine führen.
Das Bundesverfassungsgericht hat vor einigen Wochen festgestellt, daß die Politiker der großen Parteien zu starken Einfluß auf die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben. Es wird höchste Zeit, daß die Medien demokratisiert werden. Hören Sie auf mit der Regierungspropaganda! Hören Sie sofort auf mit der Kriegspropaganda, Herr Gniffke!
www.jungewelt.de/m/2014/06-03/012.php