Endlich mal jemand, der das Ganze alberne Gesülze der Medien gestern korrekt einordnet.
So beliebig und dämlich, wie die Berichterstattung in den Medien gestern war, braucht man sich auch hier nicht über "Halsketten- und Wahlbetrugs"-VTs, dem Wiederauferstehen Österreich-Ungarns und was sonst noch gestern hier an unübertroffener Blödheit zu lesen war, zu wundern.
:)"Der Wahlabend im Fernsehen
Neuwahlen, wenn die Kanzlerin keinen Koalitionspartner findet
Mit diesem Ergebnis hatte niemand gerechnet: So berichteten ARD, ZDF, RTL, n-tv, N24 und Phoenix über eine denkwürdige Bundestagswahl. Einigen gelinge gute Analysen, viele bringen den Zuschauern nichts.
Im ARD-Hauptstadtstudio ließen sie diesmal nichts anbrennen. „Spannend wie ein Tatort“ werde der Wahlabend sein, versprachen Caren Miosga und Ulrich Deppendorf. Und so war es, schon weil Jörg Schönenborn, der Mann mit dem Statistik- und Touchscreen-Fetisch, immer wieder auf die Unsicherheiten verweisen musste, die mit den Prognosen und Hochrechnungen verbunden waren, während ein Reporter nach dem nächsten daran scheiterte, ratlosen Politik-Prominenten am Rande ihrer Kräfte so etwas wie eine Koalitionsaussage zu entlocken. Ein leidenschaftliches Trio, also sprang die Leidenschaft auch auf den Zuschauer über. Klammert sich die FDP an eine Schlange?
Zwar wissen wir noch immer nicht, was genau uns das türkische Sprichwort über den Zustand der FDP verraten sollte, das Hatice Akyün vom „Tagesspiegel“ vor 18 Uhr in den Raum warf: „Wer zu ertrinken droht, klammert sich auch an eine Schlange.“ Vermutlich ist es auch so, dass der Außenreporter, der vier arme Passanten vor dem Kanzleramt nach ihren Befindlichkeit befragen musste, bis heute auf den großsprecherisch angekündigten Menschenauflauf vor der „Waschmaschine“ wartet. Und was die Hessen betrifft: Die Analyse „Der Apfelwein fließt nicht mehr“ greift reichlich kurz.
Konzentriertes Gesamtbild
Im Großen aber fügte sich in der ARD fast alles zu dem konzentrierten Gesamtbild, das von einem öffentlich-rechtlichen Sender erwarten werden darf - von kleinen satirischen Einlagen in der Stunde vor der Prognose und Blitz-Einordnungen des Politologen Everhard Holtmann über Korrespondenten-Berichte aus dem Ausland bis hin zu einer überraschend ruhigen Günther Jauch-Sendung, in der Wolfgang Schäuble und Gerhart Baum, wohl wissend, welch historischer Einschnitt sich eben ereignet hatte, alles zusammenzukratzen versuchten, was den Liberalen noch eine Zukunft verheißen könnte.
Die Talkrunde schloss damit, dass Schäuble, entnervt von Jauchs Bohren, für die kommenden Tage weder ein Zweckbündnis mit den Sozialdemokraten noch den Grünen ausschließen mochte. Einer von beiden, sagte er mit spitzbübischem Grinsen, werde sich schon zur Zusammenarbeit mit Angela Merkel „erbarmen“, wenn es sein müsse. Um zugleich, wenn auch etwas gedrängt von Jauch, auf größtmögliche Distanz zum „demagogischen Wahlkampf“ der AfD zu gehen. Das war das deutliche Wort zum Charakter der neuen Partei nahe der Fünfprozenthürde, um das sich die Berichterstatter zuvor herumgedrückt hatten, „weil wir“, so der Mann, der im Normalfall für alles eine Zahl hat, „die AfD nicht einschätzen können“.
Die AfD - „In D-Mark wären es 9,8 Prozent“
Sogar die Anbiederung bei der Netzgemeinde hatte ihren Reiz, weil sie vergleichsweise dezent war. Per Videotext konnte der Zuschauer über das Fernsehbild der ARD legen, was an Flüchtigkeiten über die Bundestagswahl getwittert wurde. Und das, muss man bei aller Skepsis gegenüber einem für Manipulationen anfälligen Instrument wie diesem sagen, war nicht immer banal, sondern zuweilen sehr wach formuliert: „Die Politikwissenschaftler können ihr Kapitel vom Ende der Volksparteien umschreiben“; „In 22 Minuten erklärt Pofalla die Wahl für beendet“; „4,9 Prozent für die AfD? Verdammter Euro. In D-Mark wären es 9,8 Prozent.“ Vielleicht geht auch so modernes Wahlfernsehen. Man muss ja nicht gleich jeden Satz durch den bärtigen Ingo Zamperoni verlesen lassen wie die Politiker-Statements, die er im Netz fand.
Senderwechsel: Stell Dir vor, es passiert Geschichte – und keiner bekommt es mit. Wenigstens war das gestern Abend im ZDF der Fall. An der fehlenden Sendezeit kann es nicht gelegen haben. Die Mainzer berichteten praktisch ohne Unterbrechung von 17 Uhr an bis weit nach Mitternacht. Es wurden unzählige Politiker, Journalisten und Experten interviewt. Trotzdem bekam man nicht den Eindruck vermittelt, was bei der Bundestagswahl eigentlich passiert ist und was es für die Zukunft dieses Landes bedeutet. Das Niveau entsprach der Qualität der „Berliner Runde“ mit den Spitzenkandidaten der künftigen Bundestagsparteien. Das wichtigste Problem schien dort die Frage zu sein, wie sich CDU und CSU über die Autobahnmaut einigen oder ob sie einen formellen Koalitionsvertrag abschließen werden. Oder die seltsame Frage, ob die Bundeskanzlerin angesichts ihres Triumphs nicht für das desaströse Abschneiden der FDP verantwortlich zu machen sei. Wieso soll sie für die FDP verantwortlich sein? Nur die Frage, welche Konsequenzen das Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag hat, wurde nicht gestellt.
Die Bundeskanzlerin hat ungewollt ihr politisches Lager zerstört – und sich damit politischer Handlungsmöglichkeiten beraubt. Im Bundestag werden, ohne die FDP und die AfD, der Union drei linke Parteien gegenüberstehen. Ein Teil des politischen Spektrums in Deutschland wird damit nicht mehr parlamentarisch vertreten sein. Man muss nicht konservativ oder neoliberal sein, um das in einer repräsentativen Demokratie für ein Problem zu halten. Das ZDF war nicht in der Lage, das überhaupt zu thematisieren.
Seine journalistische Inkompetenz vermittelte dabei der ZDF-Hauptstadtreporter Thomas Walde in herausragender Art und Weise. Nach fünf Stunden Berichterstattung war wohl auch dem ZDF aufgefallen, dass sich die Union im Bundesrat auf genau ein Bundesland wird stützen können: Bayern. Die Bundesregierung wäre damit innenpolitisch handlungsunfähig, trotz beinahe absoluter Mehrheit im Bundestag. Walde fragte den SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel, wie die SPD mit ihrer Mehrheit im Bundesrat umgehen wolle. Der säuselte etwas von Verantwortung und der Bundesrat sei ja kein Ort für „Ideologie“. Walde nahm das ohne jede kritische Nachfrage zur Kenntnis. Er wird ihm das geglaubt haben, obwohl sich die SPD schon heute die Hände reiben wird, wie sie die Bundeskanzlerin in dieser Konstellation jeden Tag ihre Machtlosigkeit demonstrieren könnte. Aber Walde wird Gabriel sicher auch abnehmen, dass dieser nichts Besseres zu tun hat als einen gescheiterten Spitzenkandidaten ohne Parteifunktion mit relevanten politischen Aufgaben zu betreuen.
Ein „fucking“ langer Arbeitstag
Ein Höhepunkt des Abends war zudem ein Interview mit dem Internet-Experten Sascha Lobo. Er berichtete, worüber man sich auf Twitter und Facebook unterhält. So über ein Bild, das den Spitzenkandidaten der AfD, Bernd Lucke, auf der AfD-Facebook-Seite mit ausgestrecktem Arm zeigte. War das etwa der „deutsche Gruß“? Lucke, dessen Positionen niemand teilen muss, als einen verkappten Nazi zu diagnostizieren, ist schon eine besondere Form der Denunziation. Zudem fühlte sich Lobo an die LTI erinnert, die Sprache der Nazis, als dieser vom „entarteten Parlamentarismus“ sprach, den man in den vergangenen Jahren erlebt habe.
Dass sich Lobos Kritik bisweilen kaum anders anhört, nur halt ohne „Entartung“, wird ihm wohl entgangen sein. So „ekelte“ er sich vor der Bundesregierung im NSA-Skandal: „Hat man als verständiger Bürger nicht wenigstens ein Recht auf Qualitätslügen? Haha, nein - man hat ein fucking Recht darauf, in einem fucking Rechtsstaat mit einer fucking beachteten Verfassung zu leben.“ Immerhin ist das zweifellos nicht die Sprache der Nazis. Vor der Bundesregierung hatten sie sich übrigens auch nicht geekelt. Bettina Schausten, die uns im ZDF den ganzen Abend durch das Programm führte, wusste darauf nichts zu sagen. War ja auch ein „fucking“ langer Arbeitstag.
Die Rückkehr der Nationalliberalen?
Aber jenseits dieser Doppelmoral, da die Empörung nur noch als Mittel im politischen Kampf benutzt wird, gab es im ZDF einen Lichtblick. Der war Marietta Slomka im „heute journal“. Sie fragte, was es denn bedeutet, wenn jetzt die FDP verschwindet und dafür mit der AfD jenes Gespenst einer Wiederauferstehung der alten Nationalliberalen rechts von der Union auftaucht. Mit der AfD und den Grünen bekommen wir eine Neuauflage der alten Spaltung des deutschen Liberalismus: Linksliberale bei den Grünen und die Nationalliberalen bei der AfD. Die FDP hatte in der alten „Bonner Republik“ zusammengebracht, was bis dahin in Deutschland nicht zusammengehörte. Mit einer AfD, die wie eine Mischung aus nationalistischer DNVP und wirtschaftsliberaler DVP erscheint, sind wir gestern Abend wieder in Weimar gelandet. Die FDP ist dagegen unwiderruflich am Ende. Das Konzept einer Bündelung des deutschen Liberalismus in einer Partei endgültig gescheitert.
Frau Slomka hatte einen Sinn für die historische Tragweite des gestrigen Abends. Ansonsten war die Berichterstattung im ZDF eine Zumutung. Wenigstens, wenn man noch etwas anderes als die neuesten Hochrechnungen oder die nutzlosen Spekulationen über die Chancen des verbliebenen politischen Personal oder Koalitionen erwartet hatte. Sie rettete damit den Abend.
Abermals Senderwechsel: Es war ein Abend der Wahlverlierer. Zu ihnen gehört auch die Senderfamilie in den ehemaligen Kölner Messehallen. RTL und n-tv hatten sich zu einer gemeinsamen Wahlsendung entschlossen, die nach vielfacher Ankündigung mit dramatischer Musik unter dem reißerischen Titel „Tag der Entscheidung“ erst um 17.45 begann – da war Graf Zahl in der ARD längst in seinem Element. Das mit dem gemeinsamen Programm darf man übrigens so genau nicht nehmen, denn n-tv-Chefmoderator Christoph Teuner wirkte neben RTL-Chefredakteur Peter Kloeppel eher wie ein Praktikant, der nur vereinzelt eine Schaltung zu einem Korrespondenten ankündigen und sich mit dem unvermeidlichen Online-Clown (der die eigene App anpries und beliebigen Twitter-Quatsch vorlas) unterhalten durfte. Nicht einmal in der auf n-tv nach 19.50 Uhr noch ein wenig nachlaufenden Wahlberichterstattung – als bei RTL schon das VIP-Wiesn-Special zu bestaunen war, das uns die im Vergleich zur Wahl viel wichtigere Nachricht übermittelte, dass Boris Becker auf dem Oktoberfest gesichtet worden ist –, nicht einmal im n-tv-Programm selbst also übernahm Teuner: Erst ab 23 Uhr durfte er bei seinem eigenen Sender auf den Schirm.
Simple Infovermittlung statt Analyse
Nachdem sich in den Vortagen die großen deutschen Privatsender als politik-affin positioniert haben, fällt besonders negativ auf, dass sich RTL/n-tv in der gemeinsamen Wahlsendung auf simple Info-Vermittlung beschränkten: von Analyse keine Spur. Vielleicht war für tiefgreifende Überlegungen oder Einschätzungen durch Experten zwischen all den Werbepausen, Hochrechnungen, Sitzverteilungsgrafiken und Koalitionsmöglichkeits-Rechenexempeln, die Peter Kloeppel an den Rand der Überforderung trieben, einfach keine Zeit mehr. Schließlich hatte man ja noch ständig in die Parteizentralen zu schalten – und nicht nur das. Um besondere Volksnähe zu demonstrieren, sollte die Reporterin Gesa Eberl Reaktionen rund um das Oktoberfest einsammeln. Sie stand jedoch in einem völlig leeren Biergarten und beteuerte trotzig: „Vorhin war es extrem voll“. Die Biergarten-Schalte war ein dermaßen abstrus-dämlicher Einfall, dass auch Kloeppel darüber nur Witze zu machen wusste und in der ganzen Sendung nicht mehr auf Frau Eberl zurückkam.
Aber der Anchorman schien auch selbst nicht recht bei der Sache zu sein, schaute gelangweilt drein, moderierte mit Hand in der Hosentasche und leitete beinahe jeden seiner Sätze mit einem „Na ja“, „Tja“ oder „Joh“ ein. Auch die nun ja doch ein wenig erstaunliche Prognose (CDU 42 Prozent, SPD 25,5 Prozent) betete Kloeppel herunter wie öde Lottozahlen. Ein wenig Spannung kam allenfalls dadurch auf, dass die Forsa-Werte, auf die sich RTL stützte, die FDP anfänglich bei fünf Prozent sahen, während sie in den anderen Sendern schon als ziemlich wahrscheinlich gescheitert gehandelt wurde.
Verdopplung des Offensichtlichen
Nun begann der Schalt-Zirkus: „Großen Jubel“ bei der CDU hatte Lothar Keller zu vermelden, „große Enttäuschung“ bei der SPD Heike Boese, „absolute Fassungslosigkeit“ bei der FDP Christian Wilp. Die Verdopplung des Offensichtlichen als Prinzip. Der Korrespondent bei der Alternative für Deutschland, Frank Berding, war so aufgeregt, dass er ständig von der „AvD“ sprach, und er hatte Hintergründiges zu berichten: „Man macht sich Mut, man klatscht sich, äh, Mut, und ähm, man weiß aber nicht, wie es ausgeht. Aber wenn es denn doch zu dieser Überraschung kommen sollte, dass die Avd in den Bundestag zieht, dann wäre es natürlich eine riesige Sensation.“
Die Auftritte der Spitzenkandidaten vor ihren Parteigenossen blendete man bei RTL hastig ein, um aber meist nach einem Satz unbeholfen den Ton abzudrehen, denn es waren ja noch so viele andere Schaltungen zu absolvieren und Stimmen abzugreifen. Ursula von der Leyen freute sich exklusiv ins RTL-Mikrophon über den großen Vertrauensvorschuss für Angela Merkel. Thomas Oppermann und Frank-Walter Steinmeier unterstrichen noch einmal, dass Peer Steinbrück der richtige Kandidat gewesen sei. Ansonsten betonten sie wie alle anderen Befragten und wie bei jeder Wahl, dass es noch zu früh sei, etwas zu möglichen Konsequenzen dieses Wahlergebnisses zu sagen.
Lindner tritt nach, Trittin tritt um sich
Interessantes enthielten allenfalls zwei Politikergespräche. Zum einen brachte sich Christian Lindner auch auf RTL als letzte FDP-Hoffnung in Stellung, indem er die Niederlage geradezu auskostete: „Eins ist jetzt schon klar: Es ist die bitterste Stunde für die Liberalen nach 1949.“ Es gelte, nun wieder in der Sache zu überzeugen durch eine Politik, die wirtschaftliche Vernunft mit gesellschaftlicher Liberalität verbinde. Es schien unzweifelhaft, dass diese Kehrtwende unter Lindner stattzufinden habe. Zum anderen polterte ein auf die Pädophilie-Debatte angesprochener Jürgen Trittin erbost gegen die „unglaubliche Schmutzkampagne gegen uns“. Auf die zaghafte Nachfrage, die Belege seien aber doch vorhanden, hieß es: „Entschuldigen Sie, wir haben 1989 diese Positionen alle korrigiert, die sind vor fünfundzwanzig Jahren beendet worden. Und deswegen wählt uns niemand nicht fünfundzwanzig Jahre später.“ So ganz passten diese beiden Antworten nicht zusammen.
Lothar Keller und Heike Boese warfen immerhin kurz vor Ende der Sendung noch die dräuende Frage auf, ob sich die SPD bei einer verfehlten absoluten Mehrheit der CDU auch schlicht verweigern könnte, um so eine schwache Minderheitsregierung oder (vielleicht auf lange Sicht) gar Neuwahlen zu erzwingen. Freilich hatten die Korrespondenten auf diese Frage keine Antwort und Lothar Keller begründete auch nicht, warum eine diesem Szenario entgegenstehende schwarz-grüne Koalition „nur eine theoretische Spekulation“ sei. Aber in diesem Moment hätte eine spannende Wahlsendung eigentlich beginnen können – doch es wartete schon Boris Becker auf der Wiesn. Und auch Franz Beckenbauer war da plötzlich auf dem Bildschirm mit dem Satz, Verlage erwarteten bei Promibüchern „Internas“. Ach, RTL.
Schließlich: Es ist ja schön, dass Michel Friedman zu allem eine klare Meinung hat. Schön wäre es aber auch, wenn der Sender N24 als Chefkommentator jemanden beschäftigte, der erst einmal nachdenkt, bevor er spricht und das eine oder andere Argument vorträgt, um sein Urteil zu stützen. Bei Friedman aber – der sich die „Analyse“ des Wahlergebnisses bei N24 mit Hans-Ulrich Jörges vom „Stern“ teilt, geht das alles ganz fix: Ein großartiger Sieg für Angela Merkel; Guido Westerwelle hat die FDP „entleert“; Steinbrück und die SPD „haben einen Wahlkampf gegen sich selbst geführt und erleben ein „Desaster“; die Linke ist ein „strukturelles Stück Fleisch am Knochen der SPD“ (wörtlich können wir uns für das Zitat nicht verbürgen, uns drehte sich gerade der Magen rum). Und Helmut Schmidt wird allgemein überschätzt.
Das hat die FDP „umgebracht“
Die FDP sei „inhaltlich entkernt“, darin sind sich bei N24 Friedman und Jörges schließlich einig – ein „historisches Wahlergebnis.“ Viele FDP-Wähler habe die „würdelose Kampagne“ regelrecht „beleidigt“, meint Jörges: „Die Zweitstimmen-Kampagne hat die FDP umgebracht.“ Ach ja: Die Grünen – das hatte Jörges auch schon vor der Wahl gesagt -, müssten sich in die Mitte bewegen und Schwarz-Grün als Option ermöglichen. „Merkel kann Kanzlerin“ bleiben, heißt es dann, und um 19.11 Uhr wird gemeldet, die Union stehe vor einer absoluten Mehrheit. Die später wieder dahin schmilzt. Michel Friedman findet, bei der AfD sei „ein bisschen hellbraun“ auch dabei, Jörges findet das eher nicht, bemerkt aber, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Partei, die rechts von der Union angesiedelt sei, im Bundestag vertreten sein könne.
Wo das vermeintliche „hellbraun“ herkommt oder die nationalkonservative Verortung der AfD, das müssen sich die Zuschauer von N24 selbst denken. Sie werden mit der Kunde in den Abend entlassen, Angela Merkel habe einen sensationellen Wahlerfolg erzielt. Dass sie eventuell gar keinen Koalitionspartner findet und man das aus den nur scheinbar defensiven Äußerungen der Wahlverlierer von SPD und Grünen auch heraushören konnte (der Ball liegt im Feld von Frau Merkel), ist bei N24 keine Überlegung wert. Und der atemlose Spuk – eine Mischung aus professioneller Reporterarbeit und Dr.-Seltsam-Auftritten (Friedman und Jörges) -, ist kurz nach neun Uhr schon vorbei. Jetzt wird der Nachrichtensender N24 zum Dokusender N24, auch am Abend einer grundstürzenden Bundestagswahl, ob man es glaubt oder nicht. Oder ob die denken: Uns schaut ohnehin kein Mensch und das fällt gar nicht auf? Nun geht es bei N24 jedenfalls um den „Mikrokosmos Mensch“.
Wer befindet sich in einer komfortablen Lage?
Da ja heutzutage jedes noch so kleine äußerliche Zeichen metaphorisch gedeutet wird, müsste man eigentlich – wenn man die auf allen Kanälen herangezogenen Twitter-Feeds ernst nehmen wollte (Angela Merkels schwarz-grüne #Koalitionskette) -, auf den Langbinder des Phoenix-Reporters Gerd-Joachim von Fallois schauen. Der war nämlich, wenn wir es richtig gesehen haben, blau-rot-gold. Blau-rot-gold? Darüber zu extemporieren, wäre man damit bei Phoenix an der falschen Adresse. Denn hier gibt es nicht nur Masse – Berichterstattung bis kurz vor ein Uhr nachts -, sondern auch Klasse: Die Umfragen von ARD und ZDF, die Statements der entscheidenden Protagonisten und Reporter an allen Orten des Geschehens. Es gibt im Laufe des Abends auch die politische Analyse, die Einordnung des vordergründig sensationellen Wahlergebnisses der Union, das am Ende sogar zu Neuwahlen führen könnte. Wenn die Union nämlich, da die FDP ausgeschieden ist, keinen Koalitionspartner findet.
Bei Phoenix kann man sehen, was das öffentlich-rechtliche Fernsehen leistet, wenn es sich auf seinen Informationsauftrags versteht und – sich dabei auch der Expertise von Zeitungskollegen versichert, die vielleicht nicht jeder Fernsehzuschauer kennt, die sich aber jeden Tag mit dem politischen Geschehen in Berlin beschäftigen und aufgerufen sind, es nicht nur abzubilden, sondern einzuordnen. Insofern wurde der Wahlabend bei Phoenix nicht nur lang und länger, sondern auch immer interessanter. Das lag zum einen an Journalisten wie dem Reporter Erhard Scherfer, der die SPD übernahm, dort keinen seiner Gesprächspartner mit dem üblich Nichtssagenden davonkommen ließ und schließlich meinte, dass die demonstrative „Zufriedenheit“ der Sozialdemokraten „sehr übersichtlich“ sei. Zum Zweiten lag es an der von Michaela Kolster moderierten Runde mit Elisabeth Niejahr („Zeit“), Christoph Schwennicke ( „Cicero), Ursula Weidenfeld und Eckhart Lohse („Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“). In der ging es um den selbstverschuldeten Untergang der FDP, die von den anderen Parteien demonstrativ, aber erfolglos ausgegrenzte AfD und deren Themen. Und um den ungewissen Ausgang dieser nur scheinbar eindeutigen Wahl ging es. Insbesondere Schwennicke zeigte sich ganz und gar nicht davon überzeugt, dass sich Angela Merkel in einer komfortablen Lage befinde.
Ulrich Reitz, Chefredakteur der WAZ, und Lothar Probst, Politologe von der Universität Bremen, knüpften daran nahtlos an. Probst war es vor allem um den Umstand zu tun, dass die Union das Gerede vom Ende der Volksparteien gerade Lügen strafe und dass die Stimmen von an die sechzehn Prozent der Wähler sich bei der Verteilung der Sitze im Bundestag nicht niederschlagen und dies demokratie-theoretische Fragen aufwerfe. Reitz verwies darauf, dass die (starke) NRW-SPD die große Koalition ganz klar ausschließe. Und man sich die AfD mit ihrer „Mischung aus richtig Konservativen und richtig Liberalen“ (ohne für diese Werbung machen zu wollen) ganz genau ansehen müsse. Allen anderen Parteien – insbesondere der FDP – müsse man vorwerfen, dass sie Euro-Kritiker in ihren eigenen Reihen nicht zugelassen hätten. Die Folgen sehe man jetzt. Sein Fazit: Es könnte Neuwahlen geben. Bei Phoenix dürfte man darüber schon am nächsten Tag mehr erfahren können."
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/faz-net-fruehkritik/der-wahlabend-im-fernsehen-neuwahlen-wenn-die-kanzlerin-keinen-koalitionspartner-findet-12586359.html