@otternase Wenn diese für mich sehr nachvollziehbaren Überlegungen stimmen, gibt es es auch eine Chance, das Verbrechen heute noch aufzuklären. Die Familie muss ja 4x registeriert worden sein: Bei der Ausreise aus Deutschland, bei der Einreise in ihr Fluchtland, bei der Ausreise aus ihrem Fluchtland und bei der Wiedereinreise in das besetzte Deutschland. Diese Registrierungen waren akribisch und ich denke, da existiert auch noch vieles in staatlichen Archiven. Es müsste nur jemand suchen...
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Wie auch
@Nev82 , habe ich versucht etwas mehr über die Lebensbedingungen in diesen Tagen in Erfahrungen zu bringen. Es war ja schon darauf hingewiesen worden, dass es ein Hungerwinter war. Nun bin ich gebürtiger Hamburger und kenne die Geschichte der Stadt so grob und für den Hausgebrauch, aber ich hatte keine Vorstellung, wie grausam dieser Winter gewesen sein muss.
Ich habe mir inzwischen von Bekannten ein Buch von Kurt Grobecker u.a.: "Mehr als nur ein Haufen Steine - Hamburg 1945 - 1949" besorgt. Es ist eine reich bebilderte Sammlung von Zeitungsberichten, Briefen und Erinnerungen aus diesen Jahren. Sehr zu empfehlen. Über die Mordserie steht allerdings nicht viel drin - zu dem Wenigen komme ich gleich.
Erstmal zu den Lebensbedingungen und dem Wetter - beides war so extrem, dass man es bei der Diskussion zu dem Fall immer im Hinterkopf haben sollte:
Der Winter 1946/47 war der kälteste des 20. Jahrhunderts und forderte in Deutschland mehre hunderttausend Tote (einschließlich Grippe-, TBC-Opfer usw.)
Wikipedia: Hungerwinter 1946/47Über Norddeutschland brach die Kältewelle am 6. Januar 1947 mit Temperaturen von -15 bis -20°C herein. Erst nach dem 15. März setzte Tauwetter ein. Aufgrund der extremen Kälte brach nahezu die gesamte Logistik und Infrastruktur zusammen. Es herrschte aktuer Mangel an Nahrungsmitteln und - mehr noch - an Kohle. Der Nährwert der auf Marken zu erhaltenen Lebensmittel sank im Schnitt auf 770 kcal pro Tag und Person. Der Kohlemangel führte zu einer Rationierung von Strom. In der schlimmsten Phase - wohl Mitte Februar - wurde jeder Haushalt nur noch für 2 Stunden mit Strom pro Tag versorgt.
Von dem Kohlemangel und den Stromabschaltungen waren auch alle öffentlichen Gebäude und auch die Krankenhäuser betroffen. Kohlen-Klauen wurde zur selbstverständlichen Notwendigkeit. Mitte Februar schätzte die Polizei die Kohle-Verluste durch Diebstahl auf 70% (!) aller Lieferungen. 1.200 Beamte wurden zum Schutz der Transporte eingesetzt. 14 Personen - darunter 8 Kinder - starben bei dem Versuch, auf fahrende Kohlezüge aufzuspringen oder Kohlen von den Tendern fahrender Dampfloks zu stehlen.
(Quelle: weitgehend das o.g. Buch)
Nach dem Winter schrieb ein Viertklässlerin in einem Schulaufsatz zum Thema "Mein schönster Tag":
"
Mein schönster Tag war der, an dem mein Bruder Friedrich starb. Seitdem habe ich einen Mantel und Schuhe und Strümpfe und eine gestrickte Weste"
(Quelle:
http://www.spiegel.de/einestages/hungerwinter-1946-47-in-deutschland-das-ueberleben-nach-dem-krieg-a-1133476.html)
Unter welchen entsetzlichen Umständen müssen die Menschen gelebt haben, wenn eine 10-jährige so empfindet?!
In genau diese Zeit fällt nun die Mordserie. Daraus folgt für mich mindestens folgendes:
1.)
Nach den Berichten konnte man den Eindruck haben, der Täter habe sich nicht sehr viel Mühe gegeben, die Leichen zu verstecken. Jetzt scheint mir eher das Gegenteil der Fall zu sein: Aufgrund der Temperaturen gab es weder eine Möglichkeit, die Leichen zu vergraben, noch in einem Gewässer zu versenken (auch die Elbe war vollständig zugefroren). Damit blieben als unauffälliger Ablageorte ja quasi nur Trümmergrundstücke übrig. Von dem Kind wissen wir, dass es in einem Fahrstuhlschacht gefunden wurde. Die Frau mittleren Alters - und ich glaube, diese Information ist neu - wurde im Keller eines ausgebombten Hauses gefunden. Ich denke in der gegebenen Situation waren das dann noch die besten Verstecke.
2.)
Kleidung muss derart wertvoll gewesen sein, dass man aus dem vollständigen Entkleiden der Leichen wohl keine weiteren Schlüsse ziehen kann. Es passt zwar schön zu meiner Spekulation zu einer Rückkehrerfamilie, dass die Kleidung nicht gefunden werden sollte, weil sie Aufschluss über die Herkunft der Toten hätte geben können, aber die Vesorgungslage bietet auch einfachere Lösungen an...
3.)
Die Leichen müssen innerhalb kürzester Zeit steif gefroren sein. Die Bestimmung des Todeszeitpunktes dürfte das außerordentlich erschwert haben. Bestenfalls konnte man die Zeit bestimmen, die die Körper noch im Warmen lagen, bevor sie abgelegt wurden. Aber warm war es damals wohl nirgendwo wirklich. Auch die Leichenschau dürfte eher oberflächlich ausgefallen sein. Die wenigen Mediziner und das wenige medizinsche Gerät, dass es noch gab, brauchten in diesen Tagen die Lebenden mehr denn je.
Frage: Hat jemand eine Idee, wie lange ein unbekleideter, toter menschlicher Körper von - sagen wir mal, knapp 50kg - bei einer Außentemperatur von -20°C benötigt, um auf den Gefrierpunkt abzukühlen, wenn er unmittelbar nach Todeseintritt in die Kälte gelegt wird? Kennt jemand da Untersuchungen?
4.)
Die Polizei dürfte in den Tagen um die Leichenfunde ganz andere Sorgen gehabt haben. Ich glaube gerne, dass man sich später sehr um eine Aufklärung bemüht hat, aber gab es da wirklich eine zeitnahe Tatortarbeit?
5.)
Ich habe einen kurzen Hinweis gelesen, dass es aufgrund der Kohlediebstähle nächtliche Ausgangssperren gab. Weiß jemand da mehr? Hat jemand Zugang zu einem Archiv von Erlassen der britischen Besatzungsbehörden? Oder gibt es das schon irgendwo online?
Noch zwei Infos aus dem o.g. Buch:
Der Preis einer US-Zigarette betrug 1947 6 RM und stieg bis zur Währungsreform auf 7 RM. Ein Brot kostete auf dem Schwarzmarkt 190 RM,- ein 1/2 Pfund Butter 340,- RM. So viel zur Kaufkraft der ausgesetzten Belohnung (5.000,- RM + 1.000 Zigaretten, später dann 10.000,- RM). Für eine einfache Familie wohl ein ungeheurer Reichtum, für einen notorischen Schwarzmarkthändler aber wohl nicht wirklich viel.
"Armenbegräbnisse" (und nicht nur die) fanden 1946 und 47 in Hamburg in Leihsärgen statt. Der Sarg wurde über die Grabstelle getragen aber nicht abgesenkt. Vielmehr öffnete ein Mechanismus den Boden, die Leiche fiel ins Grab und der Sarg wurde wiederverwendet.