Original anzeigen (0,2 MB)Der zweite Blick
Doch um Tote zu fotografieren müssen diese nicht zwingend stofflich anwesend sein. Die Kamera ist nahezu von Beginn an auch ein Medium der Spiritualität, die in der viktorianischen Epoche Hochkonjunktur hat. So genannte Geisterfotografien, entstanden durch Über- und Doppelbelichtung, wobei der Schemen einer ersten Aufnahme auf der zweiten zum Vorschein kommt, werden als Zeichen einer übersinnlichen Welt angenommen. Der Mensch des 19. Jahrhundert hat zum einen wenig Kentniss über den technischen Prozess der Fotografie, aber vor allem eine große Hoffnung auf die Beweisbarkeit von Seele, Ewigkeit und der Überwindung des Todes durch die Technik. Erst die Fotografie kann menschliche Gesichtszüge lebensecht festhalten und so diese Hoffnungen beantworten. Geliebte Tote können auf diese Weise wiedererweckt werden. Die Kamera umgibt in der Ära des Gaslichts ein übersinnlicher Nimbus und der Fotograf wird zum Geisterbeschwörer.
Erst mit den für jedermann zugänglichen Schnappschuss-Kameras löst sich diese Aura auf. Doch bis ins 21. Jahrhundert hat sich die Vorstellung einer Verbindung von Bildern und wahrer Person erhalten, demonstriert durch die Symbolkraft, die wir ihnen beimessen. Nicht umsonst gilt in vielen Kulturen die Fotografie aufgrund ihres geradezu unheimlichen Realismus’, vom Menschen instinktiv als real wahrgenommen, als Möglichkeit, eine Seele zu besitzen. In diesem Glauben steckt der Mythos um die Fotografie, der bereits im Gaslicht-Zeitalter wirkte. Aber auch wenn die Abbilder der Verstorbenen mit denen der Hinterbliebenen wieder durch die Technik vereint zu werden scheinen, die Hoffnung auf das ewige Leben durch die Kamera ist ein grausames Trugbild. Denn in dem Moment, in dem die Wirklichkeit auf die Fotografie übertragen wird, erwacht nicht das Tote zu neuem Leben. Im Gegenteil erstarren die Lebenden zu leblosen Ebenbildern der Leichen neben ihnen.