Der Tod, die Familie und das Erinnerungsfoto
Eine aufgebahrte Kinderleiche befindet sich im Zentrum dieser Fotografie, die um 1900 in Levern (heute ein Ortsteil von Stemwede, Kreis Minden-Lübbecke) aufgenommen worden ist. Die Familie hat sich am Kopfende des Sarges aufgestellt. Dunkel gekleidet – die Mutter trägt Tracht, die in einigen nördlich gelegenen Kirchspielen des Altkreises Lübbecke um 1900 noch alltägliche Kleidung für Frauen ihrer Generation war –, die Hände gefaltet, sehen die hinterbliebenen Eltern und Geschwister mit ernstem Blick den Fotografen an.
Von der Wiege bis zur Bahre – noch bis in die 1960er Jahre war es in einigen Gegenden Westfalens üblich, die privaten Lebensstationen eines Menschen in all seinen Phasen im Bild festzuhalten: Anders als heute wurde der Tod dabei nicht ausgespart.
Ähnlich wie der Status „verheiratet“ in Hochzeitsfotos wurde der Status „tot“ in Aufbahrungsfotos dokumentiert und für die Angehörigen in kleinen Fotoalben über „Tod und Beerdigung“ aufbewahrt. Welche Bedeutung die hinterbliebene Familie diesen Erinnerungsfotos beimaß, lässt sich an der Tatsache ablesen, dass selbst in abgelegenen Gegenden ein professioneller Fotograf mit der Herstellung beauftragt wurde.
Wie zu „offiziellen Fototerminen“ üblich, kleidete man sich dem Anlass entsprechend „gut“. Die Hinterbliebenen trugen die Trauerkleidung, die sie auch auf dem Gang zum Friedhof oder während der tiefen Trauerphase zum Kirchgang anlegten. Die Toten wurden in weiße, eigens gekaufte oder selbst hergestellte Totenhemden – letztere gehörten in einigen Gegenden zur Aussteuer – oder in ihre gedeckten Sonntagskleider beziehungsweise guten Anzüge eingekleidet und in katholischen Gebieten zusätzlich mit einem Rosenkranz versehen. Kinderleichen kleidete man in der Regel in Weiß – also in der Farbe der Unschuld und Reinheit – und legte ihnen zuweilen Spielzeuge und – wenn sie katholisch getauft waren – bunte Heiligenbilder in den blumengeschmückten Sarg.