MissMary schrieb:Ich weiß nicht, ob man nicht auch - mit nostalgischem Blick- den Fehler macht, Dinge von damals etwas romantisch nach heutigen Maßstäben zu bewerten.
Aus dem Grund sind es auch nur Kleinigkeiten die ich vermisse - wie z.B. Gartengemüse, dessen Aufwand mir auch klar ist - und keinesfalls "früher war alles besser".
Könnte x Punkte nennen bei denen ich froh darum bin dass sich etwas geändert hat.
Das Leben war früher simpler. Zu Weihnachten bekam wir vielleicht mal einen Pullover, Oma strickte zwei Paar Socken, die kratzten, man bekam drei Bücher. Klassenfahrten führten nach Bonn (damalige Hauptstadt) mit ellenlangem Kulturprogramm, was nicht schülernah war. Es gab den gesamten Winter Erdbeer- und Himbeermarmelade, weil dieses Obst in unserem Garten wuchs.
So kenne ich das auch. (Obst und Gemüse an dem orientiert, was im Garten wuchs, fand ich übrigens nicht störend und würde das heutzutage auch so halten - mein Beruf ist jedoch nicht "landkompatibel".)
MissMary schrieb:Ich habe es durchaus auch so erlebt wie @Raspelbeere und @martenot - ich wollte z.B. nach der Grundschule aufs Gymnasium und übte auch viel. Dann habe ich eine Mathearbeit verhauen und meine Klassenlehrerin hat meine Eltern dann dahingehend beraten, dass ich die Nerven und die Intelligenz nicht hätte und dass ein guter Realschulabschluss doch viel mehr wert sei. Gepaart mit der Angst "was werden denn die Leute denken, wenn du das Gymnasium nicht schaffst!" wurde des dann die Realschule.
Genau. Nur letzteres wurde so nicht geäußert und ziemlich sicher auch nicht gedacht, sondern eher "Gymnasium ist nur was für die Söhne von Ärzten und Anwälten, und sowas sind wir nicht!" (wurde so auch geäußert) nebst "Töchter sollen nicht gescheiter sein" (ebenso so geäußert).
Mir fiel auf dass meine Eltern nach Elternsprechtagen immer bestimmte Lehrer als "was der sich einbildet", "also der, der ist sowas von lästig" bezeichneten - jene Lehrer von denen mir bekannt war dass sie sich ein Studium für mich vorstellen könnten. Wahrscheinlich versuchten diese Lehrer bei den Elternsprechtagen auf sie einzuwirken.
Was leider damals gar nicht bekannt war: Teilleistungsschwächen, Neurodiversität.
Mein Mann ist Legastheniker - keine Diagnosen, keine Nachteilsausgleiche oder Therapien/Kurse zu Schulzeiten.
Ich bin Autistin (getestet, Asperger) - als Kind mit frühem, sicherem Spracherwerb und erkennbar keiner geistigen Behinderung fiel ich nur nicht unter die damalige Vorstellung von "Autismus" (die da war: spricht nicht, geistig behindert, desinteressiert).
Meinem Mann wie auch mir begegnete damals viel "aber bei deinen Noten kann das doch nicht so schwer sein", "stell dich nicht so an", "ich sage dir jetzt zum hun-dert-sten Ma-le...". Viel Voruteile die ihm wie auch mir jeweils in der Jugend begegneten, z.B. er hätte kein Interesse an Büchern, oder ich wolle nur provozieren.
MissMary schrieb:Auch Jobs waren bei uns im ländlichen Raum spärlich gesät. Eine Freundin wollte unbedingt Fotografin werden (und macht heute, 40 Jahre später, noch echt geniale Bilder) - den Zahn haben ihr ihre Eltern gezogen, dann wurde sie brav Arzthelferin, da ihre Eltern auch nicht wollten, dass sie Abi macht und Medizin studiert, da man davon ausging, dass sie ohnehin heiratet und es dann "vergeudete Lebenszeit" gewesen wäre. Sie ist heute mit 50+ noch Single, arbeitet seit ca. 35 Jahren in einer Arztpraxis und ist die rechte und linke Hand des Arztes, aber ist eben weit hinter ihren Möglichkeiten geblieben.
Meine Eltern wollten damals für mich entweder etwas im Verkauf (Verkäuferin, Bäckereifachverkäuferin) oder "wenn du einen sehr guten Realschulabschluss schaffst, ins Büro" also Rechtsanwaltsgehilfin, Verwaltungsfachangestellte.
Mir kam zwar um die Zeit schon unter dass man wegziehen kann, aber mit 16, immer ländlicher Kontext, einmal Bahn gefahren (tatsächlich!) erschien das wie "weite Welt, keine Ahnung in die Richtung".
(War dann froh darüber dass es just in dem Jahr einen neuen Ausbildungsberuf (Fachinformatiker) gab der gut passte - jedenfalls ausgehend von einem Realschulabschluss - und meine Eltern dann doch unterschrieben haben. Bei den Berufen die in der Nähe angeboten wurden hatte ich zuvor - vor diesem neuen Beruf - den Eindruck: Nichts richtig für mich dabei. Technik liegt mir, bin aber körperlich kaum belastbar und brauche einen überwiegenden "Schreibtischjob". Kaufmännisch, Verkauf... keine Interessen in die Richtung und der Umgang mit Kunden lag und liegt mir (bin Autistin) nicht was auch in Praktika auffiel. Konnte mir durchaus insgesamt etwas vorstellen (z.B. Berufe die ich in Dokumentationen gesehen hatte), aber das ging alles in Richtung Studium und war nirgends a) als Ausbildungsberuf, b) vor Ort verfügbar.)
MissMary schrieb:Bei schlechteren Noten war man froh, man bekam eine Lehrstelle ... wenn man Schlosser werden wollte und der Bäcker nahm einen - dann wurde man halt Bäcker. Man durfte weitaus weniger Ansprüche "ans Leben" stellen.
Allerdings dürfte das heuzutage nicht besser aussehen. Schlechte Noten, oder z.B. "den Quali nicht geschafft"? Heutzutage würde man meist nichts finden. Aus meinem Jahrgang haben einige so doch noch einen Ausbildungsplatz im Handwerk bekommen (teils direkt nach der 9. Klasse, teils nach Berufsgrundjahr) und hatten immerhin nach den 3 - 3.5 Jahren die Option sich fortzubilden oder umzuorientieren.
(Extremfall: Hatte beim Abiturnachholen einen Mitschüler der Jahre zuvor den Quali nicht geschafft hatte.)
Falls der Beruf nicht unausübbar unpassend ist, würde ich sagen: Wenn es extrem schwierig ist einen Ausbildungsplatz zu finden (ausgiebig versucht, auch nach Praktika/Probearbeiten hat es nicht funktioniert), und man auch keine Ambitionen hat es weiter mit der Schule zu versuchen (wäre z.B.: Abschlussklasse wiederholen, Schulform wechseln und weitermachen, oder wirklich motiviert ins Berufsgrundjahr und ernsthaft "durchstarten") doch erstmal die Nicht-Wunsch-Ausbildung. Schulfplicht besteht immerhin - Ausbildung, Schulbesuch oder Berufsgrundjahr.
MissMary schrieb:Diese "Not" - es war einfach ein anderer Lebensstandard - führte dann eben dazu, dass man materielle Dinge einfach mehr schätzte.
Ebenso. Mir geht es heutzutage immer noch so - denke viel "kann man noch reparieren", "muss ich nicht ersetzen" und würde mir nichts "einfach mal so als Gag" kaufen. Obwohl es finanziell drin wäre.