@Bundeskanzleri @EnyaVanBran Hätte ich früher im Hafen meine Kollegen mit "Sie" angesprochen, dann hätten sie mich vermutlich als Spinner zum Abkühlen ins Hafenbecken geworfen. Damals war das "Sie" den Bürohengsten (und -stuten) vorbehalten. Wer nicht mit den Händen arbeitete, sondern mit dem Kopf, der/die galt als etwas besseres. Das ist aber nun schon rund ein halbes Jahrhundert her.
Als ich dann ins Büro aufstieg, weil meine Halswirbelsäule nach einem Auslandsaufenthalt schwer gelitten hatte, setzte sich langsam auch am Schreibtisch das "Du" durch. Lediglich mit Vorgesetzten war man bei "Sie".
In den Redaktionen, für die ich zwischendurch bzw. später tätig war, war zwischen den KollegInnen das "Du" üblich, zumal in sich als "links" verstehenden Häusern wie Arbeiterkampf, Konkret, Titanic, aber auch, mit Abstrichen beim Spiegel oder der Süddeutschen Zeitung. Dort gab es noch ein gewisses hierarchisches Gefälle, das sich auch in der Anrede manifestierte.
Auch in den kleineren Verlagen, in denen ich später arbeitete, war, zumindest bis zur letzten Übernahme durch ein grosses Haus, das "Du" Standard. Nach der Übernahme wurde sorgsam zwischen den "Alten" mit "Du" und denen da oben, bzw. weit weg mit "Sie" unterschieden. Wir sind wir und die sind die. Je weiter ich allerdings in dem Unternehmen selbst die Karriereleiter hochkletterte, desto verbreiteter wurden das "Du" unter Gleichrangigen. Von Vorgesetzten wurde einem das höchstens angeboten, wenn sie besoffen waren oder eine sexuelle Komponente mitspielte - aber wehe, man kam im betrieblichen Alltag darauf zurück: "Im Bett und am Tresen waren wir doch noch per Du - aber nun nicht mehr?"
Nach Ende meiner Tätigkeit für den internationalen Wissenschaftsverlag arbeitete ich wieder als Journalist, bzw. organisierte den Papierkram in kleineren Betrieben, oft bei Handwerkern. Da galt dann hier oben im hohen Norden ein generelles "Du", selbst den Inhabern gegenüber.
In der Klapsmühle, wie ich sie gern nannte, war unter KollegInnen das "Du" üblich, mit Ausnahme der hohen Tiere. PatientInnen bzw. KlientInnen, oder was es sonst noch für euphemistische Bezeichnungen für die "Irren" gab, gegenüber galt eine strenge "Sie"-Verordnung, auf die aber viele von ihnen keinen Wert legten. Wenn mich jemand anspricht: "Tach, ich bin Irene, und wie heisst Du?", dann antworte ich nicht: "Für Sie immer noch Herr J.!"
Ich musste allerdings machmal, wenn Vorgesetzte vorbei kamen, mitten im Satz vom Du zum Sie und danach wieder zurück wechseln, was die Angesprochenen manchmal irritierte: "Na, Paul, sossu 'n Tass' Kaff' haben?" "Jo, man to, Anders." (Vorgesetzte schwebt ein) "Gut, Herr X., ich bringen Ihnen den Kaffee dann an Ihren Platz." "Jo, mok man." (Vorgesetzte schwebt aus) "Ey, Paul, wissu auch noch'n paar Kekse dorto?"
Jetzt bin ich Rentner und muss auch den Kram nicht mehr achten.