Eine Analyse der Chronologie der Entscheidungen der Bundesregierung kommt zu dem Schluß, dass Fehleinschätzungen zu Beginn der Epidemie in Deutschland dazu geführt haben, dass im Kampf gegen die Ausbreitung wichtige Zeit verloren wurde.
Am 31. Dezember versendet das internationale Frühwarnsystem ProMED eine E-Mail. Es geht um eine unbekannte Lungenentzündung in China. Die Meldung zum neuartigen Coronavirus geht auch nach Berlin ans Robert Koch-Institut... Für einen solchen Fall hatte die Bundesregierung eine Art Blaupause - ein Papier aus dem Jahr 2012. Titel: "Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz". Darin steht, was im Falle einer Pandemie zu tun ist: Schulen schließen, Großveranstaltungen absagen. Doch bis die Politik solche Maßnahmen umsetzt, vergehen Wochen.
Die Corona Ausbreitung hätte einen ganz anderen Verlauf genommen, wenn zu Beginn des Jahres Großveranstaltungen abgesagt und Schulen geschlossen worden wären.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagt am 23. Januar in den tagesthemen: "Der Verlauf hier, das Infektionsgeschehen, ist deutlich milder, als wir es bei der Grippe sehen." Ende Januar treten die ersten Fälle in Deutschland auf - die meisten mit einem milden Krankheitsverlauf.
Da die ersten Patienten in Deutschland einen milden Verlauf der Krankheit hatten, wurde die Gefährlichkeit zu niedrig eingestuft.
Am 29. Januar, es gibt bereits weltweit Verdachtsfälle, kommt der Gesundheitsausschuss im Deutschen Bundestag zusammen. Das Thema Coronavirus ist Tagesordnungspunkt 5b - am Ende der Sitzung. Der Chef des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, beklagt die "mangelhafte Informationspolitik Chinas". Es sei immer noch nicht genau geklärt, wie das Virus übertragen werde Von der "Risikoanalyse zum Bevölkerungsschutz" aus dem Jahr 2012 ist in dieser Sitzung laut Protokoll keine Rede. Der Gesundheitswissenschaftler Professor Gerd Glaeske von der Universität Bremen hält das für ein Versäumnis: "Im Prinzip hat man diesen Bericht nicht ausreichend zur Kenntnis genommen und hat letzten Endes nicht darauf reagiert, dass man längst Vorkehrungen getroffen hat für die nächste Epidemie oder Pandemie."
Noch am 12.02.2020 ist für den Gesundheitsminister die Gefahr einer Pandemie eine „irreale Vorstellung“. Erst Ende Februar gibt es in internen Gruppen Überlegungen zu einem Lockdown.
In dieser Zeit wird Karneval und Fasching gefeiert.
Am selben Tag, dem 26. Februar, kommen im Bundesinnenministerium Experten zusammen. Das Protokoll zu dem Treffen ist als Verschlusssache eingestuft. Es liegt BR Recherche und "Welt am Sonntag" vor. Bei dem Treffen geht es unter anderem darum, dass der Vorrat an Masken knapp werde, auch über ein mögliches Exportverbot für Schutzausrüstung wird gesprochen
Am 02.03. kommt es zu einer Sondersitzung des Gesundheitsausschusses, hier wird über die Absage von Großveranstaltungen diskutiert.
Bis zu einer Empfehlung des Ministers, Großveranstaltungen abzusagen, vergeht fast eine Woche.
Am 11. März ruft die WHO den Pandemiefall aus. Eine Woche später, am 18. März, appelliert Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Fernsehansprache: "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst."
Deutschland kommt im internationalen Vergleich gut durch die Corona-Krise. Klar ist aber auch: 78 Tage sind vergangen von der ersten Meldung im Frühwarnsystem ProMED bis zu entschlossenen Maßnahmen: Großveranstaltungen abgesagt, Schulen zu, Geschäfte geschlossen. So wie es in der Blaupause von 2012 beschrieben steht.
https://www.tagesschau.de/inland/corona-ausbruch-deutschland-rekonstruktion-101.htmlZwischen der ersten Meldung des internationalen Frühwarnsystems ProMED bis zu den umfassenden Maßnahmen, die bei der Fernsehansprache der Bundeskanzlerin angekündigt wurden, sind 78 Tage verstrichen.