McMurdo schrieb:Die 99,8 % der Bevölkerung die offiziell noch nicht infiziert sind haben ja auch ein Recht weiterzuleben unter lebenswerten Bedingungen.
Mhm. Das lese ich immer wieder.
Ich hab mir aus Interesse auf YT mal ein paar der Videos vom 09.05. angesehen. Da ist ja der/die ein oder andere private Kameramann/-frau durch die Massen gestolpert.
Und bei dieser Form der Argumentation ("lebenswert") stolpere ich bei dem Versuch der Empathie immer ein wenig.
Schlimm ist die (Lockdown-) Situation vor allem für Betreiber und Mitarbeiter kleinerer Betriebe, Gastronomen, Veranstalter, Künstler, Eltern mit Homeoffice,... Da stecken existenzielle Ängste dahinter und/oder eine Überlagerung von Verantwortlichkeiten, die auf diese Weise nicht über längeren Zeitraum zuzumuten sind. Soweit verständlich und der Druck demnach auch eine schnellere Lockerung zu organisieren nachvollziehbar für mich.
Aber dort auf den Demonstrationen seh ich niemanden davon. (Mal von den Eltern mit Homeoffice abgesehen, die werden vermutlich schlichtweg keine Kapazitäten haben, wenn sie denn hingehen wollten.) Da war nirgends ein Schild mit der Aufschrift "Wenn ich nicht bald meinen Laden wieder aufmachen kann, geh ich bankrott." Da stand auch niemand und sagte, er steht vor seiner Kündigung und weiß nicht, was dann. Da steht auch kein Musiker, der durch eine abgesagte Tour sein Jahreseinkommen verloren hat. Da stand noch nicht mal jemand mit der Meinung "Ich geh für meine Schwester/Schwager/was-auch-immer auf die Straße, weil jemand für sie das Recht auf Kinderbetreuung einfordern muss.
Da waren nur Leute, die nicht einsehen, zum Einkaufen eine Maske tragen zu müssen, die sich eingesperrt fühlen, weil sie nur eingeschränkt Kontakte pflegen können und Leute, die nicht einsehen, dass man bei einer global ausgerufenen Pandemie auf Großveranstaltungen, öffentliche Kundgebungen und den gemeinschaftlichen Demonstrationsspaziergang verzichten sollte. Der Einzige, der wortwörtlich gesagt hat, er demonstriert, weil er den Immunitätsausweis nicht will (was ja nun wirklich auch ein Grund zum demonstrieren für mich wäre) hatte ein Pappschild mit der Aufschrift "Gebt Gates keine Chance!" vor der Brust hängen. (Um nur die nachvollziehbarsten gehörten Gründe zu nennen.)
Mir ist klar, dass es gerade bei privaten Filmaktionen nicht nur um Information, sondern auch um Klicks geht, und dass man sich da natürlich die besonders exotischen Exemplare mit Vorliebe aussucht. Aber man konnte ja auch ein bisschen im Hintergrund des aktuellen Protagonisten der Szenerie ein paar Blicke erhaschen.
Ich lass mich gern belehren, ich wäre froh, wenn ich mich irre. Aber ich habe das Gefühl, dass die, die am meisten von der ganzen Situation betroffen sind, irgendwie nirgends repräsentativ und öffentlich die Stimme erheben. Wenn ich von nachvollziehbaren Stimmen etwas gehört habe, dann ging es eigentlich immer um das Versammlungsrecht - und zu dem habe ich ja unter den aktuellen Umständen eher eine differenzierte Meinung.
(Auch die Umweltaktivisten, die - wenn ich mich an Farin Urlaub und seinen Grotesksong anlehnen darf - ja sonst keine Gelegenheit auslassen, mit Schildern zu winken und Weltuntergangsliedchen zu trällern, haben Demonstrationen online organisiert, mit Übertragen per Youtube und Teilnahmelisten, damit man seine "Anwesenheit" als Stimme beitragen kann. Einige haben vorübergehend ihren Schwerpunkt auf Petitionen und Aufklärung gelegt und auf Demonstrationen vollends verzichtet. Jedenfalls gelangte ich zu diesem Eindruck anhand der Newsletter, die in meinem Postfach landen, weil ich sonst wesentlich mehr "Einladungen" zu Demos u.ä. erhalten habe.)
Bin ich allein mit diesem Eindruck oder einfach nur nicht flächendeckend genug informiert?
Für mich bedeuten neue und extreme Situationen auch, dass es für eine Weile eben auch neue und extreme Einschnitte geben kann. Da ich meinen Beruf die letzten Wochen auch nicht ausüben konnte, bin ich eigentlich auch direkt vom Lockdown betroffen. Aber ich hatte weiterhin ein sicheres Dach über dem Kopf, ich konnte alle notwendigen Besorgungen erledigen, ich habe Kommunikationsmittel für Familie und Freunde nutzen können, um herauszufinden, wie es den Menschen geht, die mir wichtig sind. Und auch wenn ich beobachten konnte, dass es für einige (vor allem für Brillenträger) recht unangenehm ist, eine Maske zum Einkaufen zu tragen, sehe ich darin keine derart grenzenlose Einschränkung, dass man sich allen Risiken zum Trotz mit Hunderten versammelt und (um das peinlichste der von mir angesehen Videos zu zitieren) "Wir sind das Volk" zu rufen.
Also abgesehen von einigen bestimmt schwerwiegenden zukünftigen Problemen innerhalb der Wirtschaft, die ich als Demonstrationsgrund ja halbwegs noch eingesehen hätte, was fehlt denn den Menschen, die nicht existenziell betroffen sind, dass es derart an "lebenswerten Bedingungen" fehlt?
Gruß