Misstrauen gegenüber der Gesellschaft
18.08.2019 um 19:25
Wer Angst hat, die Welt retten zu müssen, tröste sich mit dem Gedanken, dass die meisten, die von dort unten hierher aufbrechen, es ohnehin nicht überleben.
Schon immer bei Migrationsbewegungen, übrigens auch deutschen, waren es zunächst die jungen, kräftigen, intelligenten Männer, die in die Fremde geschickt wurden, in der Hoffnung dass sie, haben sie erst Fuss gefasst, ihre Angehörigen nachholen können.
Vor einiger Zeit sprach ich mit einem Jungen aus Eritrea. Er erzählte mir seine Geschichte: Sie waren fünf Brüder. In Eritrea wirst Du schon mit Abschluss der Schule, ca. mit 14, zum Militär eingezogen. Als Junge und als Mädchen. Du unterstehst lebenslänglich diesem Militärdienst und musst dem Militär zur Verfügung stehen, wenn Du nicht ohnehin in Militärcamps unter elendigen Bedingungen hausen muss. Viele Fabriken gehören hohen Militärs. Da müssen die Dienstverpflichteten arbeiten. Wer fehlt, wird als Deserteur bestraft. Krank sein ist keine Ausrede. Lohn gibt es nicht, nur den kargen Sold. Du wirst dahin befohlen, wo Dich Deine Vorgesetzten am profitabelsten einsetzen können. Folgst Du nicht, landest Du im Militäknast incl. Folter - wenn sie Dich nicht gleich als Deserteur an die Wand stellen.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bezeichnet Eritrea als ein einziges „gigantisches Gefängnis“.
Folglich hat die Familie alles zu Geld gemacht, was sie konnte und sich zusätzlich verschuldet, um ihren Kindern die Flucht zu ermöglichen. Die Ausreise ist illegal. Erwischen sie Dich: Knast oder Erschiessen. Zurückkehren kannst Du nie wieder. Dagegen war die DDR ja noch fast "human" zu nennen.
Um es kurz zu machen: Fünf sind geflohen - einer hat überlebt. Die anderen vier: Verschollen - seit rund einem Jahr ohne Lebenszeichen. Gefasst? Getötet? Verschleppt? Im Mittelmeer ertrunken? Er weiss es nicht - wird es nie erfahren.
Es ist ja nun nicht so, dass nur die Eingeborenen diejenigen sind, die sich um Integration von Neubürgern bemühen. Zum einen sind dies auch nicht alle Einheimischen, sondern nach meiner Jahrzehnte langer Erfahrung nur ein kleiner bis verschwindend geringer Teil, der vorurteilsfrei und offen auf "die Neuen" zugeht.
Andererseits mache ich in den Jahren aktiver Hilfe für Geflüchtete die Erfahrung, dass diese sehr wohl ein grosses Interesse daran haben, Kontakt zur hiesigen Bevölkerung aufzunehmen. Fast alle wollen ihre Kinder in einer Krippe, Krabbelgruppe, Kita, Spielkreis unterbringen, damit sie nicht nur Deutsch lernen, sondern auch andere Kinder kennen lernen. Dass schulpflichtige Kinder in die Schule gehören, ist selbst Menschen aus dem hintersten Eritrea und finstersten Afghanistan bekannt. Entgegen vieler Vorurteile wird Bildung auch in anderen Gesellschaften als hohes Gut angesehen. Alle wollen, dass es ihren Kindern nicht nur gut geht, sondern auch besser als ihren Eltern. Da nimmt sich Somali und Nordfriese nichts.
Natürlich sollen die Kinder nach einem guten Schulabschluss entweder eine Berufsausbildung machen oder studieren - wie ihre Eltern. Wie oft ich schon Zugewanderten das deutsche Bildungssystem von Kita bis Uni erklärt habe, die duale Berufsausbildung, Schulpflicht und Berufsschulpflicht, Gesellen- und Meisterprüfungen, Zugangsbedingungen für Hochschulen etc., kann ich in Stunden nicht mehr zählen.
Die erste Frage der von mir betreuten Migranten war stets die geradebrechte Frage auf Deutsch oder Englisch: "Wo kann Deutsch lernen?" Dummerweise hat das BAMF für Geflüchtete ein Klassensystem errichtet, das die Zugänge zu verschiedensten Kursen, vom Alphatetisierungskurs über STAFF-Kurse, DAZ-Klassen, I-Kurse etc. sehr reglementiert. Kurz: Der Syrer hat die besseren Chancen als der Nigerianer, der Iraker oder Eritreere bessere als jemand aus einem Nachbarland. Da wird dann gern mit Bleibeperspektiven und Integrationsfähigkeit argumentiert.
Also organisieren das Leute ehrenamtlich und auf eigene Kosten. Und es funktioniert! Wenn der Staat und seine Institutionen versagen, bzw. versagen wollen, dann ist es Zeit für bürgerschaftliches Engagement.
Bis auf zwei Ausnahmen unter mehr als hundert Menschen, die in den letzten Jahren mein Hilfe (und die anderer) hier in der Region angenommen haben, war das Hauptinteresse: Wo kann ich Deutsche treffen, wo kann ich mit ihren sprechen, um zu üben, wo erfahre ich etwas über das Land, in dem ich jetzt bin, über die Region, in der ich jetzt lebe. Folglich organisieren wir an verschiedenen Orten "internationale Cafes" unter verschiedensten Namen mit Angeboten von Bildung bis Kaffeeklatsch, von "Geschichtsunterricht" bis Gesellschaftsspiel, von politischen und religiösen Diskussionsrunden bis hin zur Müttergruppe.
Wir haben Museen besucht, Kirchen, KZ-Gedenkstätten, den Landtag, Kunstausstellungen, Volksfeste, Konzerte, Sexshops und FKK-Strände. Frauen haben etwas über Verhütungsmittel erfahren und Fahrrad fahren gelernt, Männer haben kochen gelernt und nähen - und vieles, vieles mehr.
Manchmal glaube ich, die Menschen, die sich nicht nur hier auf Allmy über angebliche mangelnde Integrationsbereitschaft "der Anderen" auslassen, haben keinen intensiven und täglichen Kontakt. Oder nur zu den falschen, den Verweigerern, weil sich gleich und gleich gern gesellen?